Viele Gleichungen lassen sich nicht exakt lösen, so dass man numerische Verfahren benötigt. Klassisch ist das Newton–Verfahren zur Lösung der Gleichung F(x)=0: mit der Rekursion soll eine Lösung von F(x)=0 approximiert werden.
Man weiß dabei natürlich nicht, ob, wie schnell und gegen welche Lösung das Verfahren konvergiert. Dafür muss man verstehen, gegen welche Häufungspunkte die Iterationen der Funktion in Abhängigkeit vom Startwert konvergieren. Das Problem ist also, das Langzeit-Verhalten der Iteration von f zu verstehen – abhängig vom Startwert.
In der komplexen Dynamik geht es um die Iteration analytischer Funktion. Zu einer auf der komplexen Zahlenebene definierten Funktion betrachtet man ihre Iterierten f(2)(z):=f(f(z)), f(3)(z):= f(f(f(z))), f(4)(z):= f(f(f(f(z)))) und so weiter, und fragt dann nach dem Langzeitverhalten der Bahn eines Startwerts z.
Das einfachste Beispiel sind lineare Funktionen f(z)=az. Dann ist die k-te Iterierte die Funktion f(k)(z)=akz. Für konvergieren alle Bahnen gegen den Nullpunkt. Für
divergieren mit Ausnahme des Nullpunkts alle Bahnen gegen Unendlich. Für
hat man Drehungen, welche die Kreise um den Nullpunkt invariant lassen und deren Dynamik auf Kreisen man gut versteht.
Zwei Funktionen f und g heißen konjugiert, wenn es eine umkehrbar analytische Abbildung φ mit φ(g(z))=f(φ(z)) für alle z gibt. Die Dynamik der Iterationen von f und g ist qualitativ dieselbe, denn φ bildet Bahnen von f in Bahnen von g ab.
Es stellt sich die Frage, welche analytischen Funktionen f konjugiert zu linearen Abbildungen sind, deren Dynamik man ja versteht. Eine solche Abbildung muß jedenfalls einen Fixpunkt haben, weshalb wir also Funktionen mit f(0)=0, d.h. a0=0, betrachten. Die Frage ist also, für welche Potenzreihen es eine analytische Funktion φ mit
gibt.
Diese Gleichung wird als Schrödersche Funktionalgleichung bezeichnet. (Nach Ernst Schröder, der vor allem für seine Arbeiten zur Logik bekannt war, der aber auch 1870 einen ersten allgemeinen Satz zur Iteration analytischer Funktionen f bewies: wenn z0 ein Fixpunkt mit ist, dann gibt es eine Umgebung von z0, auf der f(k)(z) gleichmäßig gegen z0 konvergiert.)
Man kann zur Lösung der Schröderschen Funktionalgleichung natürlich für φ eine Potenzreihe ansetzen und durch Koeffizientenvergleich schrittweise die Koeffizienten dieser Potenzreihe berechnen. Man bekommt b1=1 und eine Rekursionsformel
mit explizit gegebenen Polynomen Pn. Die Frage ist aber, ob die Potenzreihe mit den so berechneten Koeffizienten dann auch (zumindest in einer Umgebung des Fixpunktes 0) konvergiert. Das ist ein sogenanntes Problem kleiner Nenner, weil die Konvergenz der Potenzreihe dann problematisch ist, wenn der im Nenner vorkommende Ausdruck a1n-1 für große n klein wird.
Für bewies Gabriel Koenigs 1887, dass Schröders Funktionalgleichung eine analytische Lösung hat. Er stellte aber auch fest, dass für
die Lösung der Gleichung sehr schwierig ist. Als ein Problem machte er die Existenz unendlich vieler periodischer Punkte aus.
Im 20. Jahrhundert behandelte komplexe Dynamik zunächst vor allem die Iteration quadratischer Polynome. Die französische Akademie schrieb 1915 einen Preis aus für eine Arbeit, die die bisher von einem lokalen Blickwinkel erfolgten Untersuchungen zur Iteration meromorpher Funktionen auf die gesamte Zahlensphäre ausdehnen sollte. Dieses Thema lag in der Luft durch das von Montel 1907 in seiner Dissertation eingeführte Konzept “normaler Familien”, bei denen jede Folge eine gleichmäßig auf kompakten Mengen konvergierende Teilfolge enthält. Beispielsweise sind die Iterierten der Funktion f(z)=z2 eine normale Familie in der Umgebung eines jeden nicht auf dem Einheitskreis liegenden Punktes, denn auf Kompakta außerhalb des Einheitskreises konvergiert jede Folge gegen eine konstante Funktion, entweder 0 oder der Punkt im Unendlichen. In einer Umgebung eines Punktes auf dem Einheitskreis ist diese Familie hingegen nicht normal. Auch kompliziertere Beispiele, wie sie Pierre Fatou betrachtet hatte, suggerierten eine Dichotomie zwischen Punkten, deren Bilder gegen einen anziehenden Fixpunkt konvergieren und in dessen Umgebungen die Iterierten eine normale Familie bilden (heute als „Fatou-Menge“ bezeichnet), und andererseits Punkten, in denen das nicht der Fall ist und für die die Bilder tatsächlich nicht konvergieren (heute als „Julia-Menge“ bezeichnet). Im Fall von f(z)=z2 ist die Julia-Menge der Einheitskreis, für andere Funktionen sieht sie sehr viel komplizierter aus. Im Bild ist die Julia-Menge weiß, die unendlich vielen Komponenten der Fatou-Menge sind blau, grün und rot.
Fatou hatte die möglichen Komponenten von Fatou-Mengen klassifiziert und bewiesen, dass die Fatou-Menge unendlich viele Komponenten hat, wenn es mehr als zwei sind. Und er hatte schon 1906 gefunden, dass Julia-Mengen total unzusammenhängende, perfekte Mengen sein können: „Das Studium gewisser Spezialfälle zeigt, dass die Ränder [der Konvergenzgebiete] im Allgemeinen von komplizierter Natur sind.“
Den Preis der Akademie gewann 1918 Gaston Julia mit einer Arbeit, die vor allem die Iteration von f(z)=z2-a für a>0 behandelte. Dank Montels Theorem konnte er erstmals die Iteration komplexer Funktionen nicht nur in der Umgebung von Fixpunkten beschreiben. Seine Arbeit bestand aus vier Teilen, in denen es um abstoßende Fixpunkte, anziehende Grenzkreise, die später nach ihm benannten Julia-Mengen, und “Blumen” (Umgebungen neutraler Fixpunkte, in denen Iterierte von f sowohl anziehend als auch abstoßend sind) ging.
Kommentare (1)