Die Innenwinkelsumme euklidischer Dreiecke ist stets π. Dagegen hängt die Innenwinkelsumme gekrümmter Dreiecke vom Flächeninhalt ab. Die Innenwinkelsumme eines sphärischen Dreiecks ist π + Flächeninhalt, die eines hyperbolischen Dreiecks π – Flächeninhalt.
Carl Friedrich Gauß bewies in den 1820er Jahren allgemein, dass bei (nicht notwendig konstanter) Krümmung K die Innenwinkelsumme ist, wobei der zweite Summand für das Integral der Krümmung über das Dreieck steht. Zwanzig Jahre später bemerkte Pierre Bonnet, dass sich diese Dreiecksformel in eine globale Aussage für geschlossene Flächen S übersetzt: das Integral der Krümmung
ist die Euler-Charakteristik der Fläche, also die Wechselsumme χ(S)=E-K+F über die Anzahl der Ecken, Kanten, Flächen in einer Triangulierung.
Allgemein definiert man die Euler-Charakteristik χ(M) einer triangulierten n-Mannigfaltigkeit M als die Wechselsumme über die Anzahl ak der k-Simplexe einer (beliebigen) Triangulierung: . Diese höherdimensionale Version des klassischen Begriffs geht auf Poincaré zurück, der auch die Formel
bewies. (Die rechte Seite ist die Wechselsumme über die Dimensionen bk(M) der Homologiegruppen von M.) Heinz Hopf fand 1928 mit Emmy Noethers linear-algebraischem Ansatz einen sehr einfachen und abstrakten Beweis als Spezialfall seiner allgemeinen Spurformel.
Der Satz von Gauß-Bonnet impliziert, dass für Flächen die Euler-Charakteristik χ(S) dasselbe Vorzeichen wie die Krümmung hat, falls das Vorzeichen der Krümmung überall dasselbe ist. Von Heinz Hopf stammt die Frage, ob auch für höher-dimensionale Mannigfaltigkeiten das Vorzeichen der Euler-Charakteristik durch das Vorzeichen der Krümmung festgelegt wird, ob also für 2n-dimensionale, geschlossene Mannigfaltigkeiten aus positiver Krümmung positive Euler-Charakteristik und aus negativer Krümmung folgt. (Für geschlossene Mannigfaltigkeiten ungerader Dimension gilt wegen Poincaré-Dualität immer χ(M)=0, hier kann es einen solchen Zusammenhang also nicht geben.)
Hopf hatte dabei wohl schon die Idee gehabt, dass man – wie im Fall konstanter Krümmung – die Euler-Charakteristik χ(M) als Integral einer geeigneten Krümmungsgröße erhalten solle. Das bewies er 1931 für Hyperflächen, also 2n-dimensionale Untermannigfaltigkeiten des R2n+1. Für Hyperflächen hat man eine naheliegende Verallgemeinerung der Gauß-Krümmung, nämlich das Produkt der Prinzipalkrümmungen. Diese kann man mittels der Normalenabbildung N:M—>S2n gemäß berechnen. Mit dem Brouwerschen Abbildungsgrad hat man
, andererseits läßt sich die Euler-Charakteristik als
interpretieren. Damit bekam er die Formel
.
Freilich erhält man geschlossene Mannigfaltigkeiten negativer Krümmung nie als Hyperflächen im euklidischen Raum und auf Untermannigfaltigkeiten höherer Kodimension ließ sich Hopfs Beweis nicht verallgemeinern.
Eine andere Entwicklung, die letztlich in die Theorie charakteristischer Klassen mündete, war die Frage nach Nullstellen von Vektorfeldern.
Klassisch war ein Resultat Poincarés, noch vor dem Beginn seiner Beschäftigung mit der Topologie: auf der S2 gibt es kein stetiges Feld tangentialer Richtungen ohne Singularität. In topologischer Sprache: jedes Vektorfeld auf der S2 hat eine Nullstelle. Brouwer bewies später, dass es allgemein auf einer gerade-dimensionalen Sphäre S2n kein Vektorfeld ohne Nullstellen gibt. Dagegen kann man auf der S2n-1 als Einheitssphäre im R2n leicht ein Vektorfeld ohne Nullstellen durch v(x1,x2,…,x2n-1,x2n)=(-x2,x1,…,-x2n,x2n-1) konstruieren.
Hopf hatte dann 1926 den Zusammenhang zur Euler-Charakteristik hergestellt, indem er bewies, dass man χ(M) als “Anzahl” (mit Vorzeichen und Vielfachheiten) der Nullstellen eines Vektorfeldes bekommt, also als Schnittzahl des Vektorfeldes mit dem Nullschnitt. (Vorausgesetzt das Vektorfeld hat nur endlich viele Nullstellen, was man aber mit einer kleinen Störung immer erreichen kann.) Die Resultate von Poincaré und Brouwer folgen dann einfach aus χ(S2n)=2 im Gegensatz zu χ(S2n+1)=0.
Damit war man also bei der Frage, ob sich die topologischen Invarianten eines Vektorfeldes, wie eben die Obstruktion gegen die Nullstellenfreiheit, berechnen und differentialgeometrisch interpretieren lassen. Allgemeiner kann man fragen, ob es auf einer Mannigfaltigkeit Paare, Tripel, … linear unabhängiger Vektorfelder gibt oder ob die Mannigfaltigkeit parallelisierbar ist (es Vektorfelder gibt, die punktweise eine Basis bilden). Das ist beispielsweise für alle Lie-Gruppen und damit für S1=SO(2), S3=SU(2) der Fall, sowie auch für die S7, die eine gewisse nicht-assoziative Multiplikation bis auf Homotopie hat.) Einen allgemeinen Ansatz für diese Frage entwickelten Mitte der 30er Jahre Hopfs Doktorand Eduard Stiefel und unabhängig Hassler Whitney. Stiefel konnte beispielsweise beweisen, dass der projektive Raum PnR höchstens dann parallelisierbar sein kann, wenn n+1 eine Zweierpotenz ist. Hopfs Student Beno Eckmann fand mit einem neuen Beweis des Kompositionssatzes von Hurwitz und Radon bereits die optimale Anzahl linear unabhängiger Vektorfelder auf der n-Sphäre in Abhängigkeit von n. (Die Optimalität seiner Lösung wurde fast zwanzig Jahre später von Adams bewiesen.)
André Weil war 1941 in die USA geflohen, nach dem Auslaufen seiner Stipendien mußte er an pennsylvanischen Colleges unterrichten. Einer seiner Kollegen am Haverford College war Carl Allendoerfer, der 1939 einen Beweis der von Hopf gesuchten Formel für den Zusammenhang zwischen Euler-Charakteristik und Krümmung gefunden hatte. Dieser Beweis hatte noch (ebenso wie ein 1940 von Fenchel gefundener Beweis) angenommen, dass die Mannigfaltigkeit isometrisch in einen Rn eingebettet ist. Man wußte damals noch nicht, ob dies für jede Riemannsche Mannigfaltigkeit möglich ist.
Allendoerfers Beweis benutzte eine Tubenumgebung der eingebetteten Mannigfaltigkeit. Der Rand der Tubenumgebung ist eine Hyperfläche, auf die sich Hopfs Beweis anwenden läßt. Mittels einer von Hermann Weyl entwickelten Tubenformel und umfangreicher Rechnungen konnte Allendoerfer die zu beweisende Formel auf die für den Rand der Tubenumgebung zurückführen.
Gemeinsam mit Weil gelang Allendoerfer 1943 dann ein intrinsischer Beweis, der keine Einbettung in den Rn mehr benutzte. Sie verwendeten Triangulierungen und lokale Einbettungen und dementsprechend Weyls Tubenmethode für im euklidischen Raum eingebettete Zellen. Die bewiesene Formel drückte χ(M) als Integral einer Funktion des Riemannschen Krümmungstensors aus. Hopfs ursprüngliche Frage nach dem Vorzeichen von χ(M) konnten sie allerdings nur in Dimensionen 2 und 4 beantworten.
Shiing-shen Chern war Anfang der 30er Jahre der einzige Mathematik-Doktorand an der Universität Peking gewesen, sein Betreuer der einzige Forschungsarbeiten veröffentlichende Mathematiker in China. Chern hatte zunächst einige Arbeiten über projektive Differentialgeometrie geschrieben. Gegen Ende seiner Doktorandenzeit begann er unter dem Einfluß der Bücher von Wilhelm Blaschke – der in Peking eine Vortragsreihe über “Topologische Fragen in der Differentialgeometrie” gehalten hatte – die Beschäftigung mit globaler Differentialgeometrie. Er promovierte dann auch nicht in China, sondern 1936 bei Blaschke in Hamburg. Nach einem Aufenthalt in Paris ging er zurück nach China, wo seine Universität wegen der japanischen Besatzung zunächst nach Changsha und dann bis Kriegsende nach Kunming verlegt wurde. Er war dort sehr abgeschnitten, verbrachte aber viel Zeit mit der Lektüre von Cartans Arbeiten. André Weil hatte eine von Cherns Arbeiten für die Math Reviews referiert und trotz einiger Schwächen der Arbeit bemerkt, dass diese auf einem sehr viel höheren Niveau war als die Arbeiten von Blaschkes Schule. Mit Weils Empfehlung wurde Chern an das Institute for Advanced Study in Princeton eingeladen, wo die Experten sehr beeindruckt von ihm waren. Die Atmosphäre dort war recht ruhig, weil viele Leute für den Krieg arbeiteten. Er erhielt Anstöße von Weyl und lernte bald danach Weil kennen, mit dem er schnell über dessen kürzlichen Beweis mit Allendoerfer ins Gespräch kam.
Chern hatte damals einen weiteren neuen Beweis für den 2-dimensionalen Satz von Gauß-Bonnet gefunden, in dem er Hopfs Interpretation der Euler-Charakteristik durch Nullstellen von Vektorfeldern benutzte. Für ein Vektorfeld auf der Fläche S schnitt er Umgebungen der Nullstellen aus und betrachtete die entstehende Fläche mit Rand und das über ihr liegende Einheitstangentialbündel. Die zu integrierende 2-Form K.dvolS zog er auf das Einheitstangentialbündel zurück, wo sie – nach einer lokalen Berechnung – das Differential einer 1-Form ist. Nach dem Satz von Stokes kann man also das Integral von K.dvol als Integral dieser 1-Form über den Rand berechnen und dieses geht, wenn man den Rand auf die Nullstellen zusammenschrumpfen läßt, gegen die Summe der Indizes der Nullstellen, also χ(S).
Es gibt zahlreiche Beweise der 2-dimensionalen Gauß-Bonnet-Formel, aber dieser Beweis ließ sich auf höhere Dimensionen verallgemeinern. Die wesentliche aus dem 2-dimensionalen Fall stammende neue Idee war das, was man später „Transgression“ nannte: eine geschlossene n-Form auf das Rahmenbündel zurückzuziehen, wo sie zu einer exakten Form wird. Um zu beweisen, dass sich die Euler-Charakteristik durch eine gewisse n-Form Pf ausdrücken läßt, mußte er also eine n-1-Form auf dem Einheitstangentialbündel finden, deren Differential zu Pf projiziert. Das war im allgemeinen Fall schwieriger als im 2-dimensionalen, gelang ihm aber in seiner 1944 in Annals of Mathematics veröffentlichten Arbeit „A simple intrinsic proof of the Gauss-Bonnet formula for closed Riemannian manifolds“. Damit hatte er einen sehr viel klareren Beweis der von Weil und Allendoerfer gefundenen Formel, er sah das später als seine beste Arbeit an. (Die Verwendung der Transgression fand in den 70er Jahren eine weitergehende Anwendung in der Chern-Simons-Theorie. Dort benutzt man, dass für flache Zusammenhänge auch die von Chern verwendete n-1-Form eine Kohomologieklasse definiert.)
Dass dieses von Chern noch als Allendoerfer-Weil-Formel bezeichnete Resultat später als Satz von Chern-Gauß-Bonnet bekannt wurde, lag wohl vor allem daran, dass Chern seinen Ansatz in den nächsten Jahren zu einer allgemeinen Theorie charakteristischer Klassen und ihrer Interpretation durch Krümmungsformen ausbaute.
Pontrjagin hatte 1938 bemerkt, dass man die Stiefel-Whitney-Klassen des Tangentialbündels einer Mannigfaltigkeit definieren kann, indem man die Mannigfaltigkeit in die reelle Graßmann-Mannigfaltigkeit Grass(n,2n) – den Raum aller n-dimensionalen Unterräume des R2n – so einbettet, dass das Tangentialbündel in das tautologische Bündel über der Graßmann-Mannigfaltigkeit eingebettet wird, und dann die Erzeuger der Z/2Z-Kohomologie von Grass(n,2n) zurückzieht. (Chern bewies später, dass die Stiefel-Whitney-Klassen des tautologischen Bündels die Z/2Z-Kohomologie der Graßmann-Mannigfaltigkeit erzeugen.)
Eine eigentlich triviale Beobachtung Cherns war, dass für komplexe Vektorbündel die Beweise auch funktionieren und sogar einfacher werden. Die Idee war, Ehresmanns Berechnung der Kohomologie der komplexen Graßmann-Mannigfaltigkeit GrassC(n,2n) auszunutzen – er hatte gezeigt, dass diese von Klassen erzeugt wird und dass die Kohomologie dieser Mannigfaltigkeiten keine Torsion hat – und damit dann für komplexe Vektorbündel über einer Mannigfaltigkeit M charakteristische Klassen
zu definieren. Diese Klassen kann man dank Ehresmanns Theorie durch Differentialformen Chi repräsentieren und von diesen bewies Chern, dass sie sich aus der Krümmungsform Ω eines beliebigen Zusammenhangs (auf dem zum Vektorbündel V assoziierten GL(n,C)-Prinzipalbündel) berechnen lassen. Für Hermitesche Mannigfaltigkeiten bekommt man damit noch einmal das höherdimensionale Gauß-Bonnet-Theorem, da sich in diesem Fall die Euler-Charakteristik durch Integration der höchsten Chern-Klasse des Tangentialbündels über die Mannigfaltigkeit berechnen läßt.
Der Zusammenhang zwischen der Krümmungsform Ω und den die charakteristischen Klassen ck repräsentierenden Formen Chk läßt sich in einer Formel zusammenfassen: det((λ1 – Ω)/2πi) = Σk Chkλk.
Die komplexe Graßmann-Mannigfaltigkeit GrC(n,∞) ist der klassifizierende Raum BU(n). Chern war klar, dass sich seine komplexen charakteristischen Klassen verallgemeinern lassen, wenn man statt der unitären Gruppe U(n) andere Lie-Gruppen G betrachtet. Er erarbeitete in den nächsten Jahren eine Konstruktion, jedem G-Prinzipalbündel einen Homomorphismus und damit charakteristische Klassen in der Kohomologie der Basis M zuzuordnen.
Die Konstruktion benutzt, dass die Kohomologie des klassifizierenden Raumes BG (für kompakte oder halbeinfache Lie-Gruppen G) mit dem Ring der Ad-invarianten Polynome auf der Lie-Algebra übereinstimmt. Andererseits sind die Ad-invarianten Polynome gerade diejenigen, für die man die durch Einsetzen der Krümmungsform eines Prinzipalbündels auf dem Totalraum des Bündels erhaltene Differentialform bereits auf der Basis definieren kann.
Zu einem G-Prinzipalbündel E—->M mit einer Zusammenhangsform der Krümmungsform Ω (die eine 2-Form auf E mit Werten in der Lie-Algebra von G ist) und einem Ad-invarianten Polynom f vom Grad k auf der Lie-Algebra betrachtet er also die 2k-Form f(Ω) auf E. Wegen der Bianchi-Identität ist dΩ=0 und dann auch df(Ω)=0. Wegen der Ad-Invarianz definiert f eine Form auf der Basis M, die ebenfalls geschlossen ist und deren Kohomologieklasse nicht vom gewählten Zusammenhang abhängt. Man bekommt also zu jedem invarianten Polynom eine charakteristische Klasse. So bekommt man für G=SU(n) die Chern-Klassen und für G=O(n) die Pontrjagin-Klassen, sowie für G=SO(2m) zusätzlich die Euler-Klasse.
Chern veröffentlichte dies in den ICM-Proceedings 1950, vorher war seine Konstruktion schon von Cartan in seinen Seminarnotizen aufgeschrieben worden. Für den Beweis der Unabhängigkeit der Kohomologieklasse vom gewählten Zusammenhang benötigte Chern, der mit der Theorie der Lie-Algebren nicht so vertraut war, ein Lemma aus einer unveröffentlichten Arbeit seines Chicagoer Kollegen André Weil, weshalb die Abbildung heute Chern-Weil-Homomorphismus heißt. Die Übereinstimmung dieser Konstruktion mit der homotopietheoretischen wird als Fundamentalsatz bezeichnet.
Mit dem so definierten Chern-Weil-Homomorphismus kann man dann auch den Satz von Chern-Gauß-Bonnet erklären. Das invariante Polynom auf der Lie-ALgebra von SO(2m) ist die Pfaffsche Determinante Pf, eine Quadratwurzel aus der Determinante von Matrizen. Angewandt auf die Krümmungsform des Levi-Civita-Zusammenhangs auf dem Rahmenbündel einer Riemannschen Mannigfaltigkeit M (und zurückgezogen auf die Mannigfaltigkeit) gibt es gerade den unter dem Integral stehenden Ausdruck auf der rechten Seite des Satzes von Chern-Gauß-Bonnet. Anwendung des Chern-Weil-Homomorphismus gibt die Euler-Klasse, deren Integral über die Mannigfaltigkeit die Euler-Charakteristik ist.
Für Chern war sein wichtigster Beitrag zur Geometrie nicht die Entdeckung der charakteristischen Klassen, sondern die Entdeckung expliziter Differentialformen, die diese Klassen repräsentieren. Diese Formen gaben seiner Meinung nach den Geometern einen Vorteil gegenüber den Topologen bei der Untersuchung vieler Aspekte.
Bild: https://www.ias.edu/scholars/shiing-shen-chern
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