Robert Dijkgraaf, Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton, hatte vor einem halben Jahr im Quanta Magazine noch eine vehemente Verteidigung der Stringtheorie geschrieben. In einem neuen Artikel wieder im Quanta Magazine ruft er nun aber das Ende der Physik aus: Contemplating the end of physics. Dort argumentiert er zunächst gegen verschiedene Begründungen, warum die Physik zu ihrem Ende gekommen sein solle, um dann aber auf eine andere Weise das Ende der traditionellen Physik auszurufen. In Zukunft werde Physik sich nicht mehr mit der Untersuchung, sondern mit der Überwindung von Naturgesetzen befassen.
Angesichts der endlosen Anzahl physikalischer Systeme, die wir aus den derzeit bekannten fundamentalen Bestandteilen des Universums herstellen könnten, beginne ich mir eine auf den Kopf gestellte Sicht der Physik vorzustellen. Anstatt ein Naturphänomen zu untersuchen und anschließend ein Naturgesetz zu entdecken, könnte man zuerst ein neues Gesetz entwerfen und dann ein System entwickeln, das tatsächlich die vom Gesetz beschriebenen Phänomene zeigt. Zum Beispiel ist die Physik weit über die aus der Schule bekannten Phasenzustände der Materie – fest, flüssig, gasförmig – hinaus und viele „exotische“ Phasenzustände, die durch die bizarren Konsequenzen der Quantenmechanik ermöglicht werden, wurden in theoretischen Untersuchungen katalogisiert, und wir können nun beginnen, diese Möglichkeiten im Labor mit speziell entwickelten Materialien zu realisieren.
All dies ist Teil einer viel größeren Verschiebung im Bereich der Wissenschaft, von der Untersuchung dessen, was ist, zu dem, was sein könnte. Im 20. Jahrhundert suchten Wissenschaftler nach den Bausteinen der Wirklichkeit: Moleküle, Atome und Elementarteilchen, aus denen alle Materie besteht; Zellen, Proteine und Gene, die Leben ermöglichen; Bits, Algorithmen und Netzwerke, die die Grundlage für Informationen und menschliche und künstliche Intelligenz bilden. Stattdessen werden wir in diesem Jahrhundert beginnen, alles zu erforschen, was mit diesen Bausteinen gemacht werden kann.
Selbst nach 14 Milliarden Jahren eines expandierenden Universums und fast 4 Milliarden Jahren Leben auf der Erde hat die Natur nur den kleinsten Bruchteil aller möglichen Entwürfe erforscht. Wie der Biologe Richard Dawkins gerne betont, sind wir Menschen – zusammen mit jedem anderen Organismus, der jemals gelebt hat – die glücklichen Gewinner einer kosmischen Lotterie. Aus einer umwerfenden Anzahl möglicher genetischer Blaupausen wurden unsere Codes zufällig ausgewählt, um als lebender Prototyp realisiert zu werden. Das gleiche gilt für alle Formen von Materie um uns herum. Die natürlichen Prozesse auf der Erde und im Universum haben nur eine kleine Auswahl des gesamten Menüs von Molekülen und Formen der Materie und den sie bestimmenden physikalischen Gesetze hervorgebracht.
Aber all dies ändert sich jetzt. Der quälend langsame Entdeckungsprozess der Natur, der von der kosmologischen und biologischen Evolution auf Zeitskalen von Millionen und Milliarden von Jahren angetrieben wird, wird im Labor auf halsbrecherische Geschwindigkeiten beschleunigt. Das mag sich zunächst wie eine „künstliche“ Wissenschaft anfühlen. Aber ein genetisch entworfenes Bakterium ist keineswegs weniger real oder weniger untersuchungswürdig als ein in freier Wildbahn gefundenes. Genauso ist es mit den neuartigen, Kuriositäten der Quantentheorie aufzeigenden ein- und zweidimensionalen Materialien. Solche neuen Technologien “befreien” die Quantenmechanik von der Beschränkung auf Atome und Moleküle und bringen sie in die makroskopischen Skalen des Alltags. Irgendwann werden wir jeden Artikel auf der Speisekarte der Realität bestellen können.
(Meine Übersetzung)
Einen anderen Aspekt physikalischer Forschung im 21. Jahrhundert diskutiert ein Artikel in der New York Times von vorgestern: Can a computer devise a theory of everything?. Es geht dort um künstliche Intelligenz und was sie zur Grundlagenforschung beitragen kann. Physiker glauben nicht, dass sie in absehbarer Zeit neue Naturgesetze entdecken kann. (Und wenn, dann würde sie sie den Menschen nicht erklären können.)
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