Wiederholt werden – zumindest für einen Teil der Abiturienten – mußte dagegen im selben Jahr in Baden-Württemberg die Abiturprüfung im Fach Gemeinschaftskunde. Grund: in einer der Aufgaben kam das Wort „Kategorienmodell“ vor, das es aber – außer im Bildungsplan des Bundeslandes – nicht gibt.
Eigentlich ist ja die Mathematik dafür bekannt, Begriffe aus der Umgangssprache zu nehmen, sie mit neuen Bedeutungen zu füllen und durch Kombination solcher Begriffe auch ganz neue Worte zu schaffen wie etwa Hauptfaserbündel oder lokale Trivialisierbarkeit. Wenig überraschend gibt es also in der Mathematik nicht nur Kategorien und Modelle, sondern auch Modellkategorien. Den Begriff des Kategorienmodells kennt aber nicht einmal die Mathematik.
Perkolation in der Schule?
Kritik an Textaufgaben mit künstlichen Anwendungsbezug fand sich auch im SPIEGEL vom 10. Oktober in einem vielbeachteten Interview mit Norbert Henze.
SPIEGEL: Herr Henze, täglich wird die Öffentlichkeit mit neuen Corona-Statistiken bombardiert, nach der Reproduktionszahl R ging es viel um dem Dispersionsfaktor k und um die sogenannte Perkolation. Wieso haben wir nichts von alldem in der Schule gelernt?
Henze: Machen wir uns nichts vor, schon die genauere Analyse der Reproduktionszahl würde den Schulunterricht überfrachten. Ich wäre schon heilfroh, wenn wir alle Schüler wenigstens mit einem soliden statistischen Grundverständnis entlassen könnten. In den Gymnasien wurde in der Mathematik über Jahrzehnte “intellektuell abgerüstet”, was Inhalte betrifft. Mit dem wenigen Wissen, das jetzt noch vorhanden ist, wird oft durch umfangreiche Textaufgaben, in denen an den Haaren herbeigezogener vermeintlicher Anwendungsbezug verpackt ist, Stoff der Mittelstufe auf Abiturniveau gehoben.
Ohne Grundbildung könne man keine Corona-Statistiken verstehen; statistische Analphabeten seien Demagogen hilflos ausgeliefert und glaubten zum Beispiel an eine Corona-Diktatur.
Klage
Ganz anders angelegt ist die Klage von Gottfried Curio, Mathematiker, Physiker und mit 41,23 Prozent im Dezember 2019 fast zum Vorsitzenden der AfD gewählt. In einer Rede am 19. Juli 2019 in Markkleeberg äußerte er sich zu “Bildungsapokalypse und Werteverfall in Schulen und Kindergärten”.
Die Schüler verlassen die Schule, ohne dass sie je von Walter von der Vogelweide, Hölderlin, Fontane irgendwas gelesen haben, dafür aber über Furcht und Elend im dritten Reich; ohne einen Überblick über deutsche Geschichte gehabt zu haben, ohne einen philosophischen Text durchdrungen zu haben, ohne Kontakt gehabt zu haben zu Bach, Mozart und Beethoven, Wagner; sie wissen nicht mehr, warum Pfingsten ein Feiertag ist, was Luther eigentlich wollte, dafür kennen sie aber die fünf Säulen des Islam.
Nun war Herr Curio ja vor seiner politischen Karriere ein durchaus anerkannter mathematischer Physiker. Da fragt man sich, warum Mathematik und Naturwissenschaften in seinen Reden so überhaupt nicht vorkommen – warum er zum Beispiel nicht beklagt, dass deutsche Schüler nur noch arabische Zahlen lernen statt der traditionsreichen römischen oder der unserem Wesen viel besser entsprechenden germanischen Zahlzeichen. Anders als die Klagen aus seiner Wahlkampfrede wäre dieser Vorwurf ja zumindest in der Sache korrekt.
Im Keller
Eher etwas über das Ziel hinausgeschossen ist Gunnar Hinck, bisher nicht gerade durch Beiträge zu naturwissenschaftlichen Themen aufgefallener taz-Kolumnist, in seiner Polemik “Unsere Mathe-Verachtung ist tödlich” vom 24. März letzten Jahres, also einige Wochen nach Ausbruch der Corona-Pandemie.
Wenn nicht gerade eine Pandemie ausbricht, sind Virologen, Naturwissenschaftler generell sowie auch Mathematiker die Nerds, denen man nicht richtig zuhört. Wäre Deutschland ein Haus, würden die Christian Drostens im Keller leben. Abgeschieden forschen sie vor sich hin, während die Bewohner der oberen Etagen durchaus froh sind, dass sie da unten leben – man könnte sie ja mal brauchen.
[…]Diese Haltung zeigt sich auch bei vielen, die derzeit an den föderalen Hebeln sitzen. Sie mögen zwar Goethe kennen, konnten sich aber meist nicht vorstellen, dass bei einer Exponentialkurve eine anfangs scheinbar harmlose Zunahme der Infizierten plötzlich so durch die Decke schießt. Das hat Folgen, die derzeit Tote fordern.
Das stimmte sicher schon damals nicht mehr. Bestätigung kam aber zwei Tage an selber Stelle von seiner Kolumnistenkollegin Pia Frankenberg (im Hauptberuf Filmproduzentin):
Als seit Langem geoutete Matheniete gehe ich gerade durch harte Zeiten. Ich bin in meiner eigenen Idiotenquarantäne. Wie soll man denn bei all den auf WhatsApp und sonstigen Kanälen geführten Fachgesprächen zum „exponentiellen Anstieg“ von Viren mithalten, wenn man schon an einfacher Prozentrechnung scheitert?
begann sie ihre Kolumne “Exponentiell was?” vom 26. März.
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