„Es zeichnet sich ab, dass die Menschheit den Kampf gegen das Coronavirus und seine Mutanten verliert. Selbst wenn die Welt in Vakzinen schwömme, wäre eine globale Herdenimmunität kaum erreichbar. Viele Zeitgenossen haben sich, vom Internet mit Informationen überfüttert, zu Impfskeptikern und Do-it-yourself-Experten entwickelt.“
So der Aufmacher der Titelgeschichte des aktuellen SPIEGEL. Ullrich Fichtner schreibt dort viele bedenkenswerte Dinge. 75 Prozent aller Covid-19-Impfstoffe seien bislang in nur zehn Ländern verimpft worden. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern sei gerade einmal ein Prozent der Menschen vollständig geimpft. Die weltweite Impfung nicht mit aller Macht anzugehen, hätte unabsehbare Folgen für die internationale Zusammenarbeit, die Hindernisse auf dem Weg seien aber entmutigend groß – nicht nur, weil es nicht genug Impfstoff gibt. In manchen Ländern, in Kasachstan, in Gabun oder Ungarn, in weiten Teilen Südosteuropas seien Impfskeptiker in der Mehrheit. Aber auch in Brasilien, in Japan oder Mexiko, in Deutschland und Frankreich seien die Minderheiten der Zögerlichen und Zuwartenden womöglich zu groß, als dass auf einen kollektiven Schutz aller – durch die Impfung der meisten – gehofft werden könne. Beizeiten wirkte es so, als hielten manche Leute die fahrlässige Ansteckung von Mitbürgern mit möglicher Todesfolge für ein Grundrecht, das der Staat gefälligst nicht anzutasten habe.
Ein Leser hat mich darauf hingwiesen, dass in dem Artikel auch der Mathematiker Émile Borel vorkommt. Borel, der übrigens auch Bürgermeister und Minister war, kann wohl als Schöpfer der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie angesehen werden: er entwickelte die abstrakte Maßtheorie, die seit Kolmogorows Lehrbuch von 1933 für die axiomatische Definition von Wahrscheinlichkeiten verwendet wird. Borel selbst hatte seine Maße auch schon gerne mal als Wahrscheinlichkeiten interpretiert, aber nicht eine „offizielle“ Definition von Wahrscheinlichkeiten auf ihnen aufgebaut. So beantwortete er 1909 die Frage, ob die Ziffern einer zufällig gewählten reellen Zahl gleichverteilt sind. Dafür bewies er das Borel-Cantelli-Lemma und darauf aufbauend (für Bernoulli-verteilte Zufallsvariablen) das starke Gesetz der großen Zahlen, wonach in einer reellen Zahl mit Wahrscheinlichkeit 1 alle Ziffern mit relativer Häufigkeit 1/10 vorkommen.
Im SPIEGEL wird nun ein „1943 erschienenes Büchlein“ zitiert, gemeint ist wohl Les probabilités et la vie, demzufolge „Ereignisse mit einer hinreichend geringen Wahrscheinlichkeit niemals vorkommen, oder wir müssen zumindest unter allen Umständen so handeln, als ob sie unmöglich wären.“
Fichtner argumentiert nun – mit Verweis auf David Spiegelhalter – aus der Wahrscheinlichkeit eines Sechsers im Lotto lese „der normale Mensch nicht, wie Borel es getan hätte, dass der Großgewinn ausgeschlossen ist, sondern er glaubt im Gegenteil, dass er doch immerhin eine gute Chance auf den Sechser habe“. (Eine Behauptung, der ich nicht unbedingt folgen würde. Jeder von uns kennt Geschichten über Lottogewinner, die ihre Millionen recht bald wieder verloren hatten. Das ist sicher kein Zufall, sondern dürfte schon daran liegen, dass eben nur Lotto spielt, wer auch sonst nicht mit Zahlen umgehen kann.)
Über die Realität extrem unwahrscheinlicher Ereignisse kann man viel schreiben. Manche meinen, dass ein Atomunfall wie im japanischen Fukushima so unwahrscheinlich ist, dass er nie passieren könnte. Borel selbst hatte ja bewiesen, dass die Ziffern einer Zahl mit Wahrscheinlichkeit 1 gleichverteilt sind. Allerdings sind Zahlen mit nicht gleichverteilten Ziffern in der Mathematik von großer Bedeutung – darunter fallen alle ganzen und allgemeiner alle rationalen Zahlen. Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen eines Impfschadens zu sterben, ist jedenfalls groß genug, dass dieser Fall bei 82 Millionen Impfungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einige Mal vorkommen wird. Sie ist freilich viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen von Covid-19 zu sterben.
Die Verwirrung der Gedanken und Gefühle ist nicht sehr verwunderlich, denn das Leben mit der Pandemie ist eine ständige Überforderung. Der Irrgarten der Tabellen und Grafiken, das Erfordernis, exponentielle Entwicklungen zu verstehen, das Gerechne mit R-Werten, Inzidenzen und prozentualer Krankenhausauslastung, all das gehört wirklich nicht zur Allgemeinbildung. In solchen Lagen muss man hoffen, dass die zuständigen Stellen überdurchschnittlich gute Arbeit leisten, und man müsste vertrauen können und Autorität anerkennen. Aber daran mangelt es eben fast überall.
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