Viele Resultate der Zahlentheorie lassen sich dynamisch interpretieren, als Eigenschaften gewisser dynamischer Systeme. Ein klassisches Beispiel ist der aus dem 19. Jahrhundert stammende Approximationssatz von Kronecker, demzufolge für eine irrationale Zahl ξ die Menge der q\xi-\lfloor q\xi\rfloor mit q∈Z im Einheitsintervall dicht liegt. (Kronecker gab noch eine genauere Abschätzung.) Das läßt sich interpretieren als Dichtheit der Orbiten für das dynamische System, das auf dem Kreis R/Z durch Drehung um den Winkel 2πξ erzeugt wird.
Hermann Weyl bewies 1910, dass die Orbiten in R/Z sogar gleichverteilt sind. (Das hatten unabhängig von ihm auch schon Piers Bohl und Wacław Sierpiński bewiesen, aus heutiger Sicht ist es eine Anwendung des 1931 von Birkhoff bewiesenen Ergodensatzes.) Weyl bekam damit in der Zahlentheorie benötigte Abschätzungen von Exponentialsummen.
Eine andere spektakuläre Anwendung der Ergodentheorie ist Lévys Konstante e^{\pi^2/12\ln(2)}, die für fast alle reellen Zahlen das asymptotische exponentielle Wachstum des Nenners in der Darstellung als Kettenbruch angibt. Aus heutiger Sicht kann man sie aus Pesins Entropieformel angewandt auf die Gauß-Abbildung G(x)=\left\{\frac{1}{x}\right\} als Selbstabbildung des Einheitsintervalls herleiten.

Man weiß seit dem 19. Jahrhundert, dass indefinite quadratische Formen Q mit rationalen Koeffizienten (in mindestens 5 Variablen) Null repräsentieren, d.h. es gibt ganzzahlige Vektoren x mit Q(x,x)=0. (Aus heutiger Sicht folgt das aus dem Lokal-Global-Prinzip, weil für indefinite Formen die Realisierbarkeit der Null über den reellen und p-adischen Zahlen bekannt ist.) Die 1953 aufgestellte Oppenheim-Vermutung besagt, dass eine indefinite quadratische Form Q in n≥3 Variablen, die kein Vielfaches einer Form mit rationalen Koeffizienten ist, nach Einsetzen ganzzahliger Vektoren beliebig kleine Werte realisieren kann. Zum Beispiel gibt es für jedes ε>0 ganze Zahlen a,b,c mit \vert a^2+b^2-\sqrt{2}c^2\vert \le \epsilon .
Für n=2 ist das falsch, wie man aus der Theorie diophantischer Approximationen irrationaler Zahlen weiß. Für n≥21 wurde die Vermutung mit Methoden der analytischen Zahlentheorie von Birch, Davenport und Ridout bewiesen. Der allgemeine Fall für n≥3 läßt sich auf den Fall n=3 reduzieren und für diesen zeigte M. S. Raghunathan, dass die Vermutung folgt, wenn jeder SO(2,1)-Orbit in SL(3,R)/SL(3,Z) dicht liegt. Die Herleitung der Oppenheim-Vermutung daraus geht wie folgt. Es gibt bekanntlich reelle Zahlen x,y,z mit b((x,y,z),(x,y,z))=0. Sei A eine Matrix in SL(3,R), die (1,0,0) auf (x,y,z) abbildet. SO(b) ist eine zu SO(2,1) konjugierte Untergruppe von SL(3,R) und hat also ebenfalls abgeschlossene Orbiten in SL(3,R)/SL(3,Z). Aus der Dichtheit des Orbits folgt, dass es B in SL(3,Z) und U in SO(b) gibt, so dass UA nahe an B ist. Der Vektor B(1,0,0) hat ganzzahlige Einträge. Weil U die quadratische Form b invariant läßt, ist b(UA(1,0,0),UA(1,0,0))=0 und damit b(B(1,0,0),B(1,0,0)) nahe an 0.

Raghunathan stellte dann eine allgemeinere Vermutung auf, in die dieser Spezialfall hineinpassen sollte: Sei G eine Lie-Gruppe, Γ ein Gitter in G, und H eine von unipotenten Elementen erzeugte Untergruppe von G. Die Orbiten der Wirkung von H auf G/Γ sollen dann als Abschluß wieder den Orbit einer (evtl. größeren) Untergruppe von G haben. (Der für die Oppenheim-Vermutung benötigte Fall folgt daraus, weil der SO(2,1)-Orbit nicht abgeschlossen ist und es keine SO(2,1) enthaltenden echten Untergruppen von SL(3,R) gibt. Letzteres folgt aus der Klassifikation der Darstellungen der Lie-Algebra so(2,1)=sl(2,C).)

Man kann das als ein Analogon zur höherdimensionalen Version von Kroneckers Theorem sehen, demzufolge für lineare Flüsse auf dem Torus Tn der Abschluss eines 1-dimensionalen Orbits stets der Orbit eines Torus Tk mit 1 ≤ k ≤ n ist. (Die Dimension k ist die Dimension des von den Anstiegen aufgespannten Q-Vektorraums. Sind zum Beispiel alle Anstiege rational, dann ist der Orbit abgeschlossen und hat Dimension 1. Sind die Anstiege alle rational unabhängig, liegt der Orbit dicht und der Abschluss hat Dimension n.) Natürlich handelt es sich bei Kroneckers Theorem nicht um einen unipotenten Fluss, es ist also keine Anwendung der Raghunathan-Vermutung.

Das einfachste Beispiel für die Raghunathan-Vermutung ist G=PSL(2,R), was mit dem Einheitstangentialbündel der hyperbolischen Ebene H2 identifiziert werden kann. Für ein Gitter Γ kann dann G/Γ mit dem Einheitstangentialbündel der hyperbolischen Fläche H2/Γ identifiziert werden. Der geodätische Fluss gs auf dem Einheitstangentialbündel entspricht der Linksmultiplikation mit Diagonalmatrizen (und er ist nicht unipotent), der horozyklische Fluss ht auf dem Einheitstangentialbündel entspricht der Linkmultiplikation mit Dreiecksmatrizen (mit Einsen auf der Diagonale) und er ist unipotent, fällt also (im Gegensatz zum geodätischen Fluss) unter die Voraussetzungen der Raghunathan-Vermutung.

Der geodätische Fluss einer hyperbolischen Fläche ist ein klassisches Beispiel für (chaotische) hyperbolische Dynamik, die Tangentialbündel der Horosphären bilden stabile und instabile Mannigfaltigkeiten,

1970 hatte Ornstein das überraschende Resultat bewiesen, dass Shift-Abbildungen bezüglich ihres stochastischen Verhaltens äquivalent sind, sobald ihre Entropie übereinstimmt. Das läßt sich auf halbeinfache Wirkungen (wie den geodätischen Fluss) anwenden, die wegen der extremen Zufälligkeit durch die exponentielle Instabilität der Orbiten dann also isomorph sind, wofür die algebraische Natur des Flußes keine Rolle spielt. Dagegen sind unipotente Wirkungen (wie der horozyklische Fluss) zwar zufällig und chaotisch, man hat aber trotzdem eine auf der algebraischen Struktur beruhende Starrheit.

Die Ergodentheorie hatte in den 70er und 80er Jahren große Fortschritte gemacht. Der 1965 bewiesene multiplikative Ergodensatz von Oseledec hatte zahlreiche Erweiterungen im Kontext topologischer Gruppen erfahren. Für das invariante SRB-Maß in der Theorie der Axiom A-Attraktoren bewiesen Ledrappier und Young, dass es durch eine von Pesin untersuchte Entropieformel charakterisiert wird. Pugh und Shub bewiesen, dass dieses Maß mit dem Zeitmittel übereinstimmt, wenn die charakteristischen Exponenten nicht Null sind. In der Theorie dynamischer Systeme war neben der homogenen Dynamik die Untersuchung aller möglichen Abschwächungen des Hyperbolizitätsbegriffs das Thema, mit dem sich viele Mathematiker beschäftigten. Allein in Moskau gab es zahlreiche große Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Aspekten der Ergodentheorie. Daneben gab es überraschend neue Entwicklungen zur Frage struktureller Stabilität. 1970 hatte Joel Robbin bewiesen, dass Axiom A und starke Transversalität strukturelle Stabilität gibt – zumindest für C2-Diffeomorphismen. Der Beweis für C1-Diffeomorphismen wurde 1988 von Ricardo Mañé gefunden.

Die Ergodizität des geodätischen und des horozyklischen Flusses auf hyperbolischen Flächen war in den 30er Jahren von Eberhard Hopf und Gustav Hedlund bewiesen worden. (Für die Modulkurve H2/SL(2,Z) hatte schon Emil Artin die Ergodizität des geodätischen Flusses bewiesen.) Während der geodätische Fluss viele (den geschlossenen Geodäten auf der hyperbolischen Fläche entsprechende) geschlossene Orbiten hat, bewies Hedlund für den horozyklischen Fluss auf geschlossenen hyperbolischen Flächen die Minimalität, also die Nichtexistenz invarianter abgeschlossener Untermengen, d.h. Dichtheit der Orbiten. Furstenberg verbesserte das fast 40 Jahre später zu eindeutiger Ergodizität, d.h. dass es nur ein eindeutiges invariantes Maß auf G/Γ gibt, nämlich das Haar-Maß von G. Das war eine stärkere maßtheoretische Formulierung der Minimalität: eine abgeschlossene invariante Untermenge würde insbesondere ein anderes invariantes Maß geben. Furstenbergs Beweis benutzte Methoden der harmonischen Analysis und die Dualität zwischen dem horozyklischen Fluss auf PSL(2,R)/Γ und der Wirkung von Γ auf (R2-0)/{Id,-Id}, die von der Wirkung von SL(2,R) auf R2 induziert wird.
Für nichtkompakte Flächen endlichen Volumens ist der horozyklische Fluss nicht eindeutig ergodisch, weil es geschlossene Kurven um die Spitzen gibt. Dani bewies aber 1978, dass es neben den Haar-Maßen dieser geschlossenen Kurven und dem Haar-Maß von G=SL(2,R) keine weiteren invariante Maße gibt. (Schon Hedlund hatte gezeigt, dass jeder Orbit periodisch oder dicht ist.)

Raghunathans Vermutung ließ sich als maßtheoretisch formulierte Vermutung so modifizieren, dass die invarianten Maße für die Wirkung einer unipotenten Untergruppe U auf G/Γ algebraisch sein sollen, d.h. den Haar-Maßen einer Untergruppe von G entsprechen. (Diese Formulierung fand sich in Arbeiten von Dani und Margulis. Im Fall G=SL(2,R) folgt diese Maßstarrheit aus den Arbeiten von Furstenberg und Dani.) Der für die Oppenheim-Vermutung benötigte Spezialfall G=SL(3,R), Γ=SL(3,Z) wurde 1986 von Grigori Margulis bewiesen. Die allgemeine maßtheoretische Version der Raghunathan-Vermutung wurde schließlich in einer Serie von vier Arbeiten von Marina Ratner bewiesen. In einer weiteren Arbeit bewies sie, dass Raghunathans ursprüngliche Vermutung aus der maßtheoretischen Version folgt. Insbesondere bewies sie die Vermutung auch im für Anwendungen wichtigen Fall, dass die Gruppe U nicht unipotent, sondern nur von unipotenten Elementen erzeugt ist. Auch verschiedene Fälle, wo Γ kein Gitter ist, sondern G/Γ unendliches Volumen hat, konnten von ihr behandelt werden.

Marina Ratner war damals schon über fünfzig, sie hatte 1956 an der Moskauer Universität zu studieren begonnen kurz nachdem das für jüdische Studenten wieder möglich geworden war, hatte nach dem Studium vier Jahre in Andrei Kolmogorows Unterrichtsprogramm für begabte Gymnasiasten gearbeitet und schließlich nach vier weiteren Jahren bei dem nur drei Jahre älteren Jakow Sinai über geodätische Flüsse promoviert. Zwei Jahre später wechselte sie nach Jerusalem, später nach Berkeley, wo sie – kurz nachdem sie 1982 bewies, dass für den horozyklischen Fluß meßbare Isomorphismen stets algebraisch sind – im Alter von 44 Jahren zur Professorin befördert worden war und eigentlich erst dann ihre Karriere in der Forschung begonnen hatte. Auf dem ICM in Berkeley protestierte sie gegen dessen frauenfreie Politik.

Die allgemeine Version des Maßstarrheitssatzes wurde einer der meistangewandten Sätze der Mathematik, mit Anwendungen in der Zahlentheorie, der Theorie elliptischer Kurven, der Theorie der Lie-Gruppen, der Geometrie und anderen Gebieten. Auch die später bewiesenen Verallgemeinerungen auf p-adische Lie-Gruppen hatten zahlreiche zahlentheoretische Anwendungen.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marina_Ratner.jpeg

Kommentare (1)

  1. #1 Theorema Magnum – Mathlog
    9. September 2021

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