Wir haben jetzt jeden vierten Deutschen geimpft. Diese Woche wird es noch jeder fünfte werden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 26. April 2021.
Titelgeschichte vom Juli 2021
Es zeichnet sich ab, dass die Menschheit den Kampf gegen das Coronavirus und seine Mutanten verliert. Selbst wenn die Welt in Vakzinen schwömme, wäre eine globale Herdenimmunität kaum erreichbar. Viele Zeitgenossen haben sich, vom Internet mit Informationen überfüttert, zu Impfskeptikern und Do-it-yourself-Experten entwickelt.
So der Aufmacher der Titelgeschichte des SPIEGEL 29/2021. Ullrich Fichtner schreibt dort viele bedenkenswerte Dinge. 75 Prozent aller Covid-19-Impfstoffe seien bislang in nur zehn Ländern verimpft worden. Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern sei gerade einmal ein Prozent der Menschen vollständig geimpft. Die weltweite Impfung nicht mit aller Macht anzugehen, hätte unabsehbare Folgen für die internationale Zusammenarbeit, die Hindernisse auf dem Weg seien aber entmutigend groß- nicht nur, weil es nicht genug Impfstoff gibt. In manchen Ländern, in Kasachstan, in Gabun oder Ungarn, in weiten Teilen Südosteuropas seien Impfskeptiker in der Mehrheit. Aber auch in Brasilien, in Japan oder Mexiko, in Deutschland und Frankreich seien die Minderheiten der Zögerlichen und Zuwartenden womöglich zu groß, als dass auf einen kollektiven Schutz aller – durch die Impfung der meisten – gehofft werden könne. Beizeiten wirkte es so, als hielten manche Leute die fahrlässige Ansteckung von Mitbürgern mit möglicher Todesfolge für ein Grundrecht, das der Staat gefälligst nicht anzutasten habe.
Impfungen und Abschlüsse
Bei Erscheinen der SPIEGEL-Geschichte noch nicht bekannt war die eine Woche später auf dem medRxiv veröffentlichte Studie Time trends and factors related to COVID-19 vaccine hesitancy from January-May 2021 among US adults: Findings from a large-scale national survey von King et al, die der Frage nachgeht, welche Bevölkerungsgruppen sich am stärksten der COVID-19-Impfung verweigern. Eines der Ergebnisse ist, dass bei Befragten mit PhD die Impfskepsis mit 23,9 Prozent höher ist als bei jedem anderen Bildungsabschluss.
Bemerkenswerterweise ist die Spitzenstellung der Promovierten das Ergebnis eines längeren Prozesses. Noch im Januar gab es unter den Unstudierten 35 Prozent Impfskeptiker, im Mai waren es dort nur noch 20 Prozent. In diesem Zeitraum blieb bei den Promovierten die Skepsis konstant zwischen 23 und 24 Prozent. Man könnte das so interpretieren, dass Menschen mit Doktortitel eine gefestigtere Meinung haben unabhängig von deren Sinnhaftigkeit.
Ein Zitat von Borel
In dem SPIEGEL-Artikel wird auch der Mathematiker Émile Borel zitiert. Borel, der übrigens auch Bürgermeister und Minister war, kann wohl als Schöpfer der abstrakten Maßtheorie und damit indirekt auch der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie angesehen werden. (Selbst hatte er seine Maße auch schon gerne mal als Wahrscheinlichkeiten interpretiert, aber nicht eine “offizielle” Definition von Wahrscheinlichkeiten auf ihnen aufgebaut. So beantwortete er 1909 die Frage, ob die Ziffern einer zufällig gewählten reellen Zahl gleichverteilt sind. Daf\”ur bewies er das Borel-Cantelli-Lemma und darauf aufbauend – für Bernoulli-verteilte Zufallsvariablen – das starke Gesetz der großen Zahlen, wonach zum Beispiel in einer reellen Zahl mit Wahrscheinlichkeit 1 alle Ziffern mit relativer Häufigkeiten 1/10 vorkommen.)
Im SPIEGEL wird nun ein “1943 erschienenes Büchlein” zitiert, gemeint ist wohl Les probabilités et la vie, demzufolge “Ereignisse mit einer hinreichend geringen Wahrscheinlichkeit niemals vorkommen, oder wir müssen zumindest unter allen Umständen so handeln, als ob sie unmöglich wären.”
Fichtner argumentiert im SPIEGEL – mit Verweis auf David Spiegelhalter – aus der Wahrscheinlichkeit eines Sechsers im Lotto lese „der normale Mensch nicht, wie Borel es getan hätte, dass der Großgewinn ausgeschlossen ist, sondern er glaube im Gegenteil, dass er doch immerhin eine gute Chance auf den Sechser habe“. (Ist das wirklich so? Jeder kennt wohl aus seiner Umgebung Geschichten über Lottogewinner, die ihre Millionen recht bald wieder verloren hatten. Ist das Zufall oder liegt das nicht eher daran, dass eben nur Lotto spielt, wer auch sonst nicht mit Zahlen umgehen kann?)
Kommentare (56)