Niedrige Wahrscheinlichkeiten
Im März 2011 – nach dem Atomunfall von Fukushima – geisterte die Zahl 1 : 33 Millionen durch die Medien als Wahrscheinlichkeit für einen Atomunfall. Für den Mathematiker stellten sich da natürlich zwei Fragen:
– Ist diese Wahrscheinlichkeit gering genug, dass man Atomkraftwerke als sicher ansehen kann?
– Und wie ist diese Wahrscheinlichkeit überhaupt definiert, was wurde dort berechnet?
Ab wann ist eine Wahrscheinlichkeit so gering, dass man mit dem entsprechenden Ereignis nicht mehr rechnen muss? In meiner Schulzeit habe ich mal einen Artikel in der Schülerzeitschrift “Die Wurzel” gelesen von einem russischen Professor, der tatsächlich einen genauen Zahlenwert dafür angab. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die Anzahl der Atome im Universum (1078) oder die Anzahl der Sekunden eines Menschenlebens (weniger als 1010) war, deren Reziprokes er als Wahrscheinlichkeit postulierte, unterhalb derer ein Ereignis als praktisch unmöglich angesehen werden könne. Natürlich sind solche Festlegungen völlige Willkür, aber auf irgendeinen Wahrscheinlichkeitswert für die Unmöglichkeit eines Ereignisses wird man sich wohl einigen müssen.
Was bedeutet: die Wahrscheinlichkeit eines Atomunfalls beträgt 1 : 33 Millionen?
Wahrscheinlichkeit kennt man in der Naturwissenschaft zunächst nur auf atomarer Ebene: man kann nicht vorherberechnen, wann ein Radiumatom zerfällt, man kennt aber Erfahrungswerte, aus denen man die Wahrscheinlichkeit berechnen kann, dass es bis zum Zeitpunkt t zerfallen ist: .
Hingegen wissen wir seit Newton, dass makroskopische Vorgänge wie das Rollen von Lottokugeln dank Impulserhaltung streng deterministisch sind. Wahrscheinlichkeiten hier gehen von Erfahrungswerten und idealisierten Annahmen aus, eigentlich sind sie aber willkürlich festgelegt:
Die Aufgabe, den realen Inhalt des Begriffes der “mathematischen Wahrscheinlichkeit” von philosophischer Seite aufzuklären, kann man daher von vornherein als hoffnungslos ansehen.
steht dann auch in Paragraph 1.1 des Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitstheorie von B. W. Gnedenko.
Bei Wahrscheinlichkeiten extrem unwahrscheinlicher Ereignisse handelt es sich jedenfalls offensichtlich nicht um Erfahrungswerte.
Die Stärke von Erdbeben wird seit gut 100 Jahren gemessen, in diesem Zeitraum hatte das weltweit stärkste Erdbeben (Chile 1960) eine Stärke von 9,5.
In und bei Japan gab es 1923 ein Beben der Stärke 7,9, 1933 ein Beben der Stärke 8,4 (mit 29 m hohem Tsunami), 1944 eines der Stärke 8,1, 1946 ebenfalls 8,1, das Kobe-Erdbeben 1995 war mit 6,9 vergleichsweise schwach.
Auch in früheren Jahrhunderten gab es immer wieder Beben, von denen man vermutet, dass sie stärker als 8,0 waren: 1703 wird auf 8,0 geschätzt, 1707 (mit 40000 Toten) auf 8,4, 1891 und 1896 (mit 23 m hohem Tsunami) jeweils auf 8,0.
Wie man hört, wurden Atomkraftwerke in Japan auf eine Erdbebenstärke von 7,5, in besonders gefährdeten Regionen sogar von 8,2 ausgelegt.
Ganz naiv sollte man meinen, dass eine Erdbeben-Stärke höher als 8,2 für Japan nicht besonders unwahrscheinlich ist.
Max Frisch über Wahrscheinlichkeiten
Max Frisch, bekanntlich ja ausgebildeter und zunächst auch praktizierender Architekt, in dessen Büchern auch Ingenieure tragende Rollen spielen, hat sich in seinem Roman Homo Faber auch mit Wahrscheinlichkeiten beschäftigt. Die Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen sich auf die Suhrkamp-Ausgabe von 1967.
S. 26f: Ich brauche, um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei Mystik; Mathematik genügt mir.
Mathematisch gesprochen:
Das Wahrscheinliche (dass bei 6 000 000 000 Würfen mit einem regelmäßigen Sechserwürfel annähernd 1 000 000 000 Einser vorkommen) und das Unwahrscheinliche (dass bei 6 Würfen mit demselben Würfel einmal 6 Einser vorkommen) unterscheiden sich nicht dem Wesen nach, sondern nur der Häufigkeit nach, wobei das Häufigere von vornherein als glaubwürdiger erscheint. Es ist aber, wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, das Unwahrscheinliche, so besteht für unsereinen keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation.
Vergleiche hierzu:
Ernst Mally Wahrscheinlichkeit und Gesetz, ferner Hans Reichenbach Wahrscheinlichkeitslehre, ferner Whitehead und Russel Principia Mathematica, ferner v. Mises Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit.
(Die Literaturhinweise stehen so bei Frisch im Original, einschließlich des fehlenden l bei Russell.)
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