Die ewige Wiederkehr
Die Periodizität der Lösungen der Lotka-Volterra-Gleichungen bedeutet, dass Luchse und Schneehasen in einem sich ewig wiederholenden Zyklus gefangen sind. Diese ewige Wiederkehr hatte bekanntlich schon Friedrich Nietzsche vorhergesagt mit dem Argument, dass die Zeit sich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft unendlich ausdehne, die gesamte „Kraft“, Materie oder Energie, und folglich die Anzahl der möglichen „Kombinationen“ oder Zustände der Welt, aber endlich ist. Demzufolge müsse jeder mögliche Zustand der Welt bereits unendlich oft eingetreten sein und noch unendlich oft eintreten.
Ungefähr gleichzeitig mit Nietzsche hatte Henri Poincaré den Wiederkehrsatz bewiesen, sozusagen eine schwächere Version der ewigen Wiederkehr: in einem Phasenraum endlichen Volumens kehrt für jede offene Umgebung U eines beliebigen Punktes x die Bahn von x unendlich oft nach U zurück. (Aber nicht unbedingt nach x.) Der Beweis benutzt, dass der Hamiltonfluss auf dem Phasenraum volumen-erhaltend ist und er ist in heutiger Sprache eigentlich sehr einfach: bezeichne Uwk die nach U irgendwann zurückkehrenden Punkten, sei T die Zeit-1-Abbildung des Hamiltonflusses – also T(x(t))=x(t+1) – und sei . Dann sind die nicht zurückkehrenden Punkte gerade die aus A-T-1A. Weil T volumen-erhaltend und T-1A eine Teilmenge von A ist, ist vol(A-T-1A)=0, also sind die nicht zurückkehrenden Punkte eine Nullmenge und vol(Uwk)=vol(U). Poincaré konnte den Beweis nicht so einfach formulieren, weil man damals das Lebesgue-Maß und überhaupt die Sprache von Maßtheorie und Topologie noch nicht hatte. Bemerkenswerterweise ist der Beweis des Wiederkehrsatzes eigentlich nur eine mathematische Ausformulierung von Nietzsches Argument.
Die numerisch berechnete Wiederkehrzeit realer physikalischer Systeme liegt allerdings weit über dem vermuteten Alter des Universums.
Ewige Wiederkehr des Konjunkturzyklus?
Eine “Anwendung” der Lotka-Volterra-Gleichungen in der Ökonomie ist das Goodwin-Modell des Konjunkturzyklus, das in den 60er Jahren von Richard Goodwin entwickelt und seit den 70er Jahren von einigen marxistischen Wirtschaftswissenschaftlern propagiert wurde. Die Variablen sind hier die Beschäftigungsquote und die Lohnquote. Für diese sollen die Lotka-Volterra-Gleichungen gelten, woraus dann also rein mathematisch die Periodizität der Bahnen folgt.
Wenn man sich allerdings die reale Entwicklung von Lohn- und Beschäftigungsquote anschaut, dann ist diese keineswegs periodisch. Das Bild unten (aus der Wikipedia) zeigt die Entwicklung der Beschäftigungsquote und Lohnquote in Deutschland von 1991 bis 2015. Der rote Punkt zeigt den Stand im Frühling 1991, danach wird alle drei Monate ein weiterer Punkt eingetragen. Während man für die 90er Jahre tatsächlich eine Zykelbewegung ausmachen kann, hat man seit 2005 ein stetes Ansteigen der Beschäftigungsquote unabhängig vom Steigen oder Fallen der Lohnquote. Einzelne Ausschläge kann man leicht mit damals aktuellen Ereignissen in Verbindung bringen.
Noch instruktiver ist vielleicht ein Blick auf die entsprechenden Daten der USA von 1948 bis 2015 im Bild unten (ebenfalls aus der Wikipedia). Man sieht dort zwar tatsächlich zahlreiche Zykel, aber stets nur für einen begrenzten Zeitraum. Dazwischen gibt es immer wieder größere Ausschläge, nach denen man zwar letztlich wieder in eine periodische Bewegung hineinkommt, die aber nicht mit dem vorherigen Zykel übereinstimmt. Langfristig kann von einer Zykelbewegung keine Rede sein.
Zumindest für die letzten siebzig Jahre hat man also keine ewige Wiederkehr.
Tatsächlich ist auch bei den Luchsen und Schneehasen die Übereinstimmung der Daten mit dem Modell der Lotka-Volterra-Gleichungen durchaus umstritten. “Do hares eat lynx?” fragte deshalb Michael Gilpin in einer 1973 veröffentlichten Arbeit.
In der eingangs erwähnten Arbeit “An analytical study of the dynamic behavior of Lotka-Volterra based models of COVID-19” von Mohammed et al. werden nun Virus und Mensch als Räuber- und Beutetier angenommen und es werden aber noch die Mutationen des Virus berücksichtigt. Man hat jetzt fünf positive Parameter a,b,c,d,e und betrachtet das Differentialgleichungssystem x’=ax-bxy+ey, y’=bxy+(c-d-e)y. Dieses System hat ein Gleichgewicht in ((e+d-c)/b,a(e+d-c)/b(d-c)). Lösungen bleiben beschränkt, das Gleichgewicht ist aber nur unter gewissen Voraussetzungen an die Parameter stabil. Im Fall von Saudi-Arbeiten berechnen die Autoren aus den bekannten Daten die Parameter a,b,c,d,e und zeigen mittels numerischer Berechnungen, dass in diesem Fall eine sehr schnelle Konvergenz gegen das Gleichgewicht erfolgen sollte. Die Arbeit wurde im Juli 2021 veröffentlicht. Die unten abgebildete weitere Entwicklung der Covid19-Pandemie in Saudi-Arabien sieht für mich aber nicht nach Konvergenz gegen ein Gleichgewicht aus.
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