Der ICM (International Congress of Mathematicians) findet alle vier Jahre mit jeweils mehreren Tausend Teilnehmern statt, er ist das mit Abstand größte regelmäßige Ereignis der mathematischen Welt. In diesem Jahr soll er vom 6.-14. Juli in St. Petersburg ausgetragen werden. Diese vor vier Jahren gefällte Entscheidung der International Mathematical Union war von Anfang an umstritten, weniger aus politischen Gründen, sondern weil die Abstimmung als Grundsatzentscheidung über die Zukunft des Kongresses gesehen wurde. Hatte der Kongress in der Vergangenheit (zuletzt 2018 in Brasilien) auch in Schwellenländern mit nicht immer perfekter Organisation stattgefunden und war von den jeweiligen lokalen mathematischen Communities mit großem Engagement getragen worden, ging es bei der Entscheidung für St. Petersburg um einen Paradigmenwechsel: der Kongress ging an das Land, dass das meiste Geld und das größte Ereignis mit massiver staatlicher Unterstützung versprach. Die Unterstützung lokaler Mathematiker spielte keine große Rolle mehr, die Organisation des Kongresses ist in den Händen auswärtiger Mathematiker und Funktionäre.
Spätestens mit dem Überfall auf die Ukraine (und auch schon seit Beginn letzten Jahres, als ein Boykottaufruf osteuropäischer Mathematiker mit “political prisoners, repression of opponents, discrimination of lgbt people, annexation of Crimea and ongoing war in Ukraine, air strikes in Syria” begründet wurde) ist die Frage, ob der ICM wie geplant in St. Petersburg stattfinden wird, nun aber zu einem Symbolthema für die Haltung der Mathematiker im Umgang mit autoritären Regimen geworden.
Öffentliche Diskussionen werden etwa auf Mathoverflow (Is St. Petersburg a good place for the 2022 ICM?) und bei Not Even Wrong (ICM 2022 and the Invasion of Ukraine) geführt. Die Fachgesellschaften Australiens, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Kanadas, Litauens, Polens und Schwedens haben sich gegen die Abhaltung des Kongresses ausgesprochen. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung will am Montag eine Präsidiumssitzung durchführen – offenbar ist man sich dort noch nicht einig. (Sonst würde man wohl in Pandemiezeiten nicht extra eine Sitzung einberufen statt einfach wie andere Fachgesellschaften unmittelbar Stellung zu nehmen. Das ist zugegebenermaßen Spekulatius.)
Während die Haltung zum Kongreß in Petersburg klar sein sollte, ist es natürlich nicht klar, was man nun tun sollte. Anders als ein Fußballspiel wird man einen Kongress mit mehreren Tausend Teilnehmern nicht einfach an einen anderen Ort verlegen können. Einen interessanten Vorschlag macht Gil Kalai: man solle die Sprecher nicht einfach per Videoübertragung von zuhause sprechen lassen, sondern den Kongress auf 10-15 Orte aufteilen, dort jeweils mit einer Live-Zuhörerschaft und gleichzeitiger Online-Übertragung und Videoaufzeichnung die Teilkonferenzen stattfinden lassen und an diesen 10-15 Orten jeweils auch noch weitere lokale Aktivitäten neben den Vorträgen organisieren. (Ein Gedanke, den man vielleicht auch für Olympische Spiele aufgreifen sollte; die sind ja inzwischen so groß und teuer, dass sie im Grunde nur noch in Diktaturen ausgerichtet werden können.) Jedenfalls kann man hoffen, dass die jetzt wohl erzwungene Rücknahme des Beschlusses für Petersburg auch ein grundsätzliches Umdenken bezüglich der Staatsnähe von Wissenschaft und wissenschaftlichen Veranstaltungen auslösen wird.
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