Crash-Prophet Markus Krall hat am 29. März 2020 auf Tichys Einblick einen Artikel Das Ringen zwischen Freiheit und der Ideologie des Sozialismus veröffentlicht, in dem er auf ein Werk des Mathematikers Igor Schafarewitsch bezugnimmt.
Schafarewitsch war einer der bedeutendsten sowjetischen Mathematiker und neben Andrei Sacharow und Alexander Solschenizyn wohl auch einer der bekanntesten Dissidenten. Sein Buch „Der Todestrieb in der Geschichte. Erscheinungsformen des Sozialismus“, das übrigens nicht wie von Krall behauptet 1975 im Samisdat-Verlag, sondern im Selbstverlag (russ. самиздат) erschienen ist, wird in Kralls Artikel als „theoretisches Rahmenwerk“ zur „Analyse unserer aktuellen Situation“ im Kampf gegen den „Kulturmarxismus“ herangezogen. Der größte Teil des dann folgenden Artikels dürfte wohl eher Kralls eigene Gedanken wiedergeben.
Was Krall nicht erwähnt: im heutigen Rußland ist der 2017 verstorbene Schafarewitsch gerade unter Unterstützern und Anhängern Putins hoch angesehen. Grund dafür ist weniger sein erstes Buch, sondern vor allem sein 1988 ebenfalls im Samisdat erschienenes zweites Buch „Russophobie“. (Es wird häufig behauptet, dass durch dieses Buch erst der Begriff Russophobie etabliert wurde, der zuvor nur vereinzelt vorkam. Aus dem Wikipedia-Artikel geht das nicht hervor, aber vielleicht war zumindest das Wort früher nicht so verbreitet.)
Das Buch war im wesentlichen eine Polemik gegen „liberale“ (also nicht-nationalistische) Dissidenten, Aufsehen erregte es vor allem durch eine sehr eigenwillige Interpretation der russischen Geschichte, die die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ausschließlich einem „kleinen Volk“ – gemeint waren die Juden – zuschreiben wollte. Während russische Revolutionäre eine tiefe Liebe zu Rußland in ihrem Herzen getragen hätten, hätten die Angehörigen des „kleinen Volkes“ keine Schwierigkeiten damit gehabt, sich von ihren russischen Wurzeln zu lösen. Es hätte sie nicht gestört, wenn das alte Rußland erniedrigt und zerstört wird. Deshalb hätte das „kleine Volk“ das Erschießungskommando der Zarenfamilie angeführt, den KGB dominiert, die russische Bauernschaft zerstört und das System der Gulags etabliert, so Schafarewitsch. Man fühlt sich unwillkürlich an das Jahr 2022 erinnert, wo es ja auch immer die anderen gewesen sein sollen, die Krankenhäuser und Schulen bombardieren oder Zivilisten auf den Straßen erschießen.
Shafarewitschs Buch wurde damals (außerhalb Rußlands) harsch kritisiert, er fand freilich auch immer wieder Verteidiger. Innerhalb Rußlands scheint der Vorwurf der Russophie gegenüber allen demokratischen Bestrebungen inzwischen etablierter zu sein als zu der Zeit, als Schafarewitsch sein Buch schrieb. Neil Robinson faßt es in einem 2019 erschienenen Artikel “Russophobia” in Official Russian Political Discourse so zusammen:
This reticence to lay a charge of Russophobia has ended in recent years. Over the last five or so years there has been a rapid growth in charges of Russophobia and the term has become a fixture of political debate. […] Before 2012 the term was used sparingly and, largely, to criticise ethnic discrimination against Russians in other post-Soviet states. It was also used by second-tier officials, that is not by Putin or other senior officials. This partial usage of Russophobia was because there was no wider ideational frame for the charge of Russophobia to work within. As a result, in official political discourse at least, the accusation of Russophobia was either not differentiated from general critiques of Russian politics and policy, or was a specific and geographically focussed accusation of ethnic bias. This changed somewhat after 2012 and the adoption by Putin of a conservative-traditional discourse based on a broader understanding of “Russianness”. This enabled the charge of Russophobia to be levelled at a wider range of regime opponents but at the same time did not identify the Russian political system and Putin’s regime with ethnic Russians alone so that some of the potential dangers of using an accusation that has nationalist overtones were weakened. This change goes someway to explaining the wider social and media usage of Russophobia, and the wider usage of the term by regime politicians, but at the apex of the Russian polity the term has still been used relatively sparingly. It has been used more than previously, but it is still used in a focussed fashion, as a critique of Ukraine, as a means of explaining why Russia’s policy toward Ukraine has not been accepted in the West, and as an explanation for what is seen as mistaken hostility to Russia in the USA and its allies.
Kommentare (116)