Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung betreibt auf ihrer Webseite einen Blog, dessen Artikel dann häufig auch im jeweils nächsten Heft der Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung erscheinen.
Zum Ukrainekrieg hatte der Blog im Mai einen Artikel “In memoriam Yulia Zdanovska” von Agnes Handwerk, wo unter der (weiter unten in diesem Beitrag abgebildeten) Zeichnung von Constanza Rojas-Molino der folgende Text zu lesen war.
„Wir sehen mit Bitterkeit, dass unser Land, das einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet hat, nun zum Anstifter eines neuen Krieges auf dem europäischen Kontinent geworden ist. Wir fordern die sofortige Einstellung aller Militäraktionen gegen die Ukraine. Wir fordern die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates. Wir fordern Frieden für unsere Länder. Lassen Sie uns Wissenschaft betreiben, nicht Krieg!“ (https://t-invariant.org/en/). Diese Resolution haben bisher über achthundert russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterzeichnet. Eine verschwindende Minderheit. Aber sie beziehen mutig Position gegen ein Schweigen über die Grausamkeit dieses Krieges. Wie lange hat die Wissenschaft gebraucht, die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Grenzen zwischen Ost und West zu überwinden! Während des Kalten Krieges konnten Mathematikerinnen und Mathematiker aus Ost und West nur selten z.B. am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach zusammenkommen. Über Jahrzehnte hat der Mathematiker Friedrich Hirzebruch mit großem Engagement und Ausdauer den Austausch zwischen Ost und West in Gang gebracht und nach dem Fall der Mauer viele russische und ukrainische Mathematikerinnen und Mathematiker an das Max-Planck-Institut für Mathematik nach Bonn geholt.
Jetzt entstehen mit diesem Krieg, den der russische Präsident Putin gegen die Ukraine führt, wieder schwer überwindbare Fronten. Wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine wurde in Charkiw die junge Mathematikerin Yulia Zdanovska von einer russischen Rakete tödlich getroffen. 2017 hatte sie an der European Girls’ Mathematical Olympiad in Zürich teilgenommen und die Silbermedaille gewonnen. Es gibt ein Bild von ihr: Ein Mädchen mit rötlichem vollen Haar, hinten zusammengebunden. Das letzte Bild: Eine junge Frau, die sich für die Mathematik einsetzte und sich bei „Ukraine4teach“ engagierte. Jetzt gilt sie aus ukrainischer Sicht als Heldin. So steht es in einem Nachruf der ukrainischen Mathematikerin Yuliia Kravchenko und dem EGMO Board: „Als der Krieg begann, entschied sich Yuliia, in Charkiw zu bleiben und zu helfen, weil dies ihre Heimatstadt war. Sie sagte: „Ich bleibe in Charkiw, bis wir gewinnen“. Ehre den Helden! Für immer vermisst, für immer in unseren Herzen…“. Yuliia Zdanovska ist mit 21 Jahren diesem Krieg zum Opfer gefallen. Es gibt keine Worte für diese Grausamkeit. Aber warum soll ausgerechnet der Krieg sie zur Heldin machen?
Auf dem ECM in Berlin 2016 waren ukrainische Mathematikerinnen sehr zahlreich vertreten. In Gesprächen schwang eine Art Nationalstolz mit, der befremdlich wirkte auf einem Kongress, der ausgerichtet war auf die Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg. Aber mit diesem Krieg entstehen in der Wissenschaft erst recht neue Fronten. Wie lange wirkte der Zweite Weltkrieg nach! Der französische Mathematiker Marc Yor erzählte, dass er seinem Vater, einst Gefangener der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, noch in den 1970er Jahren nicht vermitteln konnte, dass er die Einladung zu einer Tagung am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach angenommen hatte. Der Mathematik wegen nach Deutschland, das bedeutet dreißig Jahre nach Kriegsende für den Vater noch immer Verrat.
Im diese Woche erschienenen Heft 2/2022 der “Mitteilungen” wurde daraus nun der folgende Artikel.
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