Es ist natürlich möglich, dass die Leserschaft der scienceblogs keine repräsentative Stichprobe der Grundgesamtheit ist; vielleicht wäre es mal ein Thema für erziehungswissenschaftliche Master- oder Doktorarbeiten herauszufinden, wie damalige Schüler ihren Mathematikunterricht heute einschätzen und inwieweit – subjektiv in der Eigensicht oder möglichst objektiv in der Außensicht – die erlernten und eventuell nicht erlernten Fähigkeiten ihnen genutzt oder auch geschadet haben.
Besser als der reale Unterricht lassen sich die theoretischen und unterrichtskonzeptionellen Hintergründe der damaligen Reform anhand von Quellen, also erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Fachliteratur und vor allem damaliger Schulbücher und Lehrermaterialien rekonstruieren. Dies leistet die in dieser Rezension zu besprechende Arbeit “Die „Mengenlehre“ im Anfangsunterricht – historische Darstellung einer gescheiterten Unterrichtsreform in der Bundesrepublik Deutschland”, mit der die Autorin Tanja Hamann (https://www.uni-hildesheim.de/fb4/institute/imai/abteilungen/didaktik-der-mathematik-1/mitglieder/tanja-hamann/= im Jahr 2017 an der Universität Hildesheim promoviert wurde, durch den Vergleich dreier damaliger Lehrwerke: alef von Bauersfeld, Wir lernen Mathematik von Neunzig und Sorger, und Mathematik in der Grundschule von Fricke und Besuden, jeweils in den Ausgaben für das 1. Schuljahr.
Wie die Autorin in der Einleitung schreibt, möchte sie vorrangig eine Beschreibung der Reform liefern, die als Grundlage weiterführender Arbeiten dienen kann, gleichzeitig aber auch die übergeordneten Fragen im Hintergrund aufgreifen, insbesondere die Frage nach den Gründen für das Scheitern der Reform. Es sollen die zentralen Reformideen (Inhalte, didaktische Prinzipien, Methodik, Gesamtkonzept) auf den verschiedenen Ebenen (wissenschaftlich-theoretisch, kurrikular, unterrichtskonzeptionell, schulpraktisch) und die Rekontextualisierung der Ideen auf den unterschiedlichen Ebenen sowie die Entwicklung von Gesamtkonzept und Ideen im Verlauf der Zeit dargestellt werden.
Kapitel I über die wissenschaftlich-theoretische Ebene und internationale Reformeinflüsse stellt die Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern dar, während auf die USA nicht eingegangen wird, weil sich Ausgangssituation und Umsetzung dort stark unterschied. Als Impulsgeber werden auf insgesamt knapp 60 Seiten das Royaumont-Seminar und die Erkenntnisse Jean Piagets und Jerome Bruners sowie die Konzepte des Unterrichtsreformers Zoltan Dienes ausführlich diskutiert. Weiter geht es dann in Kapitel II (gut 50 Seiten) um den Verlauf der Reformen in der BRD und Kapitel III beschreibt und vergleicht dann auf jeweils 30-40 Seiten die drei obengenannten Lehrwerke. Kapitel IV ist den “Folgerungen” gewidmet.
Die Autorin kommt zu dem Fazit, die Mengenlehre sei als gescheitert anzusehen, weil “die Nähe der Umsetzung von Reformkonzepten zu den Ideen und Zielen, die ihren ursprünglichen Ausgang markieren”, nicht gegeben war, sie “vielmehr durch eine Fülle an Anpassungen und Verkürzungen, auf den verschiedenen Ebenen” gekennzeichnet gewesen wäre. Dennoch sei nicht alles, was im Zuge der Reform neu war, aus dem Unterricht verschwunden. Die Geometrie gehöre erst seit den 1970ern zum festen Kanon der Grundschule. Das Nachdenken darüber, welche Methode am geeignetsten ist, habe sich etabliert, Lernspiele bei Schulanfängern und Gruppenarbeit würden so wenig in Frage gestellt wie offener Unterricht allgemein. Schulbücher seien weiterhin bunt und enthielten viele Bilder, Begriffe sollten nicht vorgegeben, sondern erarbeitet werden. Die Bezeichnung des Faches als “Mathematik” sei geblieben, eine Rückkehr zum alten Fach “Rechnen” habe nie ernsthaft zur Debatte gestanden.
Wir beenden diese Besprechung mit einigen interessanten Auszügen zur Geschichte der Reform, die sicherlich nicht nur dem Referenten so nicht bekannt waren.
Ende 1973 und damit nach dem ersten abgeschlossenen Schuljahr, in dem die Reform in der Praxis implementiert worden war, ergriff eine wohl beispielsweise Protestwelle gegen die Neue Mathematik die Bundesrepublik. Dabei war die Reform des Mathematikunterrichts an den weiterführenden Schulen kein Thema, der Unmut richtete sich allein gegen die “Mengenlehre” in der Grundschule. […] Ein Jahr später waren sämtliche Massenmedien auf eine hysterische Debatte aufgesprungen, an der praktisch die gesamte Öffentlichkeit der Bundesrepublik Anteil nahm. Einen Eindruck von der Situation vermittelt Der Spiegel vom 25. März 1974, der der Reform unter der bemerkenswerten Schlagzeile “Macht Mengenlehre krank?” seine Titelseite widmete.
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