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Neben den Anschaffungskosten für Material und der häufig geäußerten Sorge, eine Kürzung der Arithmetik zugunsten der neuen Inhalte würde unweigerlich zu schwächeren Rechenleistungen führen, war ein Argument, vermutlich ausgelöst durch fehlendes eigenes Verständnis der neuen mathematischen Inhalte, dass Eltern ihren Kindern nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen konnten. Ob dies überhaupt in großem Umfang nötig war, bleibt indes unklar. In dem im Spiegel wiedergegebenen Zitat eines “Mengenlehre-Gegner[s], die Kinder [sehen] früh, zu früh, ihre Eltern hilflos und unwissend. Damit schwindet die Achtung, die Kinder können nicht mehr ihre Eltern fragen, deren Vorbild verblaßt” kommen jedoch tieferliegende gesellschaftliche Überzeugungen zum Ausdruck, die sich gegen die emanzipatorischen Ziele der Reform richten und in der öffentlichkeitswirksamen Verteufelung der “Mengenlehre” ein eher zufälliges Ventil finden. Wie hoch in jedem Fall das Informationsbedürfnis über das, was im Mathematikunterricht geschah, in der Elternschaft war, belegen der Erfolg speziell für Eltern geschriebener Bücher über die Neue Mathematik, die Tatsache dass entsprechende Volkshochschulkurse Anklang fanden und auch die 1974 eigens zum Thema vom Niedersächsischen Kultusministerium herausgegebenen Hilfen zur Durchführung von Elternabenden.
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Der heute so absurd anmutende Spiegel-Titel war weder reine Ironie noch bewußte Provokation, sondern gab wieder, was einige Ärzte tatsächlich öffentlich kolportierten, dass nämlich die mit den neuen Inhalten einhergehende Überforderung – für die es ihrerseits keine Belege gibt – Kinder krank mache. Wie ernst diese Aussagen genommen wurden, wird deutlich angesichts der Tatsache, dass die Frage vermeintlicher Gesundheitsschädigung es bis in die Parlamente schaffte und bei einer Anhörung in Baden-Württemberg 1974 ein eigens eingeladener Kinderpsychologe beschwichtigen mußte.
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Es verdient hier noch unbedingte Erwähnung, dass die Erwachsenen die Diskussion um die “Mengenlehre” unter sich ausmachten, während Grundschulkinder – und damit die Hauptabnehmer der Reform – nie systematisch zum Mathematikunterricht befragt wurden. Es finden sich jedoch diverse Quellen, die darauf hinweisen, dass die Kinder mitnichten überfordert waren, die neuen Inhalte viel schneller beherrschten als die Erwachsenen – mithin wohl auch häufig keiner Hausaufgabenhilfe bedurften – und generell Freude an ihrem Mathematikunterricht empfanden. Noch 1973 konstatierten 73 Prozent der betroffenen Eltern in Baden-Württemberg, der Unterricht mache ihren Kindern Spaß, während 18 Prozent angaben, ihre Kinder empfänden Widerwillen.
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