Von Genf bis zum Südpol sind es genau 15.124 Kilometer – aber durch zwei Ereignisse, die (wenn auch mit 100 Jahren Zeitabstand) aktuell bemerkenswert sind, verkürzt sich diese Distanz für mich heute auf einen Gedankensprung. Was könnte also die Verbindung zwischen der an die Geduld appelierende Verkündung, dass man am CERN in Genf dem lange gesuchten Higgs-Boson zwar ein bisschen näher gekommen sei, und dem heutigen 100. Jahrestag des Eintreffens von Roald Amundsen am Südpol sein? Nun, da kann ich nur einladen, meinem Gedankensprung zu folgen: Amundsen und seinem Rivalen Robert F. Scott ging es primär darum, der Erste zu sein – das Erreichen des Südpols wurde somit zu einem tödlichen Wettrennen, bei dem in gewisser Weise auch die Wissenschaftlichkeit des Unterfangens auf der Strecke blieb. Auch das Higgs-Teilchen ist ein wissenschaftlicher “Pol” (oder meinetwegen auch ein bisher unbestiegener Gipfel); wenn noch derselbe Konkurrenzgedanke wie zu Scotts und Amundsens Zeiten die Leistungen der “Entdecker” beflügelt hatte, wäre am Dienstag vermutlich statt vorsichtig abwartender Geduld und der Aussicht auf ein spätes, aber dafür stichfestes Resultat eine voreilige wissenschaftliche Siegeserklärung abgegeben worden.

So, nun bin ich vermutlich erst mal jedem auf die Zehen getreten, der sich für die Erfoschung des Südpols oder für die Teilchenphysik interessiert. Was, bitteschön, hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Die Antwort ist erst mal: Natürlich nichts. Aber wenn die Forschung am Large Hadron Collider eines nicht ist, dann ein Wettrennen der Egos: Viele Tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von 85 Institutionen aus 85 Ländern kooperieren für das Projekt. Und bestimmt gibt es rivalisierende Arbeitsgruppen, bestimmt kollidieren Egos hier häufiger als Protonen im Synchrotronstrahl – aber letztlich bleibt es ein Gemeinschaftsprojekt; allein die Autorenliste des ersten LHC-Papers ist fünf Seiten lang – länger als mancher wissenschaftliche Fachartikel insgesamt. Solche Arbeitsgruppen müssen koordiniert werden, und das kostet Zeit. Und Abstimmung. Und erneute Abstimmung. Und Terminkoordination. Und und und…

Aus der Sicht der Wissenschaft ist das gut. Übereilte Ankündigungen gab es auch so schon genug. Aber aus der Sicht des Publikums, sprich: der (mehr oder weniger) interessierten Öffentlichkeit ist das langweilig. Wie, keine Sensationen? Keine mitreißenden Gegen-die-Uhr-Geschichten? Keiner, der “Erster” rufen darf? Wettrennen sind da doch spannender, oder? Sicher doch. Das Wettrennen Amundsen gegen Scott ist eine der spannendsten, aber auch tragischsten Forschergeschichten, mit tödlicher Dramatik. Dabei hatte der Brite Scott die Expedition primär als eine wissenschaftliche Exploration konzipiert, für die der Weg zum Pol ebenso ein Ziel war wie der Pol selbst. Dem Norweger Amundsen hingegen ging es vor allem darum, ein “Eroberer” zu sein – und dabei war er keineswegs nur der kühle, kalkulierende und Risiko minimierende Planer, als der er generell gilt, sondern er war sich der Natur des Wettrennens und des dabei auf dem Spiel stehenden Risikos einer Niederlage sehr bewusst: “Das kann man keine Expedition mehr nennen, das ist Panik”, warnte einer von Amundsens Gefährten, Hjalmar Johansen, nach Amundsens erstem “Frühstart” im September 1911, der beinahe tragisch geendet hätte. (Johansen fiel durch seine Zweifel bei Amundsen in Ungnade und musste im Basislager zurückbleiben.)

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Amundsens Mannschaft vor dem Zelt, das sie am Südpol erreichtet hatte (Wikimedia Commons)

Scott hingegen hatte seine Terra-Nova-Expedition als eine wissenschaftliche Expedition konzipiert, deren Ziel auch das Erreichen des Südpols sein sollte. Diese Pläne (an denen er eigentlich unter allen Umständen festhalten wolltye) wurden jedoch durchkreuzt, als Amundsen ihm völlig unerwarted per Telegramm die Herausforderung entgegenschleuderte: Beg leave to inform you Fram proceeding Antarctic kabelte der Norweger dem britischen Marineoffizier Scott in holperigem Englisch, etwa “Erlaube mir Sie zu informieren, Fram unterwegs zur Antarktis.” Das konnte einen britischen Sportsmann, der glaubte, die Ehre seines Landes stehe auf dem Spiel, nicht ungerührt lassen.

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Edward A. Wilson, Robert F. Scott, Edgar Evans, Lawrence Oates und Henry Robertson Bowers, aufgenommen am Südpol, vor Roald Amundsens “Polheim”-Zelt. © AMNH Library

Es wäre aber dennoch unfair, Amundsen damit die Schuld am tragischen Ausgang der Scott-Expedition zu geben. Der Brite hatte keine Pol-Erfahrung, setzte auf die falsche Ausstattung – Pferde und Motorschlitten, beispielsweise, die in der antarktischen Kälte schnell untauglich wurden; Hunde hingegen, die das norwegische Team verwendete (und bei Bedarf übrigens auch verspeiste), hielt Scott für “unsportlich”. Auch die Wollkleidung war nicht für den Polareinsatz erprobt. Skier, die den Norwegern von Kindesbeinen an vertraut waren und auf Schnee und Eis hervorragende Gleithilfen sind, waren der britischen Expedition unbekannt beziehungsweise uninteressant. Auch bei der Planung und Verproviantierung fehlte es Scott an der nötigen Erfahrung. Dass er das Rennen fortsetzte, obwohl er die Mängel seiner Vorbereitung sicher früh erkannt haben musste, ist allein Scotts Verantwortung. Aber sicher war, dass für die wissenschaftlichen Aspekte der Expedition praktisch keine Zeit mehr blieb.

Es war nicht das einzige und auch nicht das letzte Rennen, bei dem die (nachhaltige) Wissenschaftlichkeit auf der Strecke blieb (die gleichen Gedanken hatte ich in einem älteren Beitrag schon mal vorgebracht). Auch dem Rennen zum Mond fiel, trotz vieler dafür unverzichtbarer technologischer Fortschritte, die wissenschaftliche Relevanz und Nachhaltigkeit der Raumfahrt zu Opfer: Nachdem der Mond betreten war, ging dem amerikanischen Raumfahrtprogramm erst die sprichwörtliche Luft und dann das Geld aus. Sicher, der Kongress hätte den Geldhahn wohl selbst dann zugedreht, wenn die Mondlandung nicht nur ein nationaler Kraftakt, eine Heldentat also, gewesen wäre, sondern Teil eines langfristigen Programms zur Weltraumerforschung. Aber vielleicht hätte sich die Nasa, als die Mittel dann wieder flossen, nicht aus einem ganz so tiefen Sinnloch (und mit einem realisierbaren Konzept zur Marserkundung, vielleicht) herausbuddeln müssen.

Selbst beim Rennen um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, bei dem das Ego des privaten Konkurrenten Craig Venter das Tempo setzte, schien der Eile des Verfahrens einiges an Konzepttiefe zum Opfer gefallen zu sein. So interpretiere ich jedenfalls die auf breiter Basis geäußerte Enttäuschung, dass die Entschlüsselung des Humangenoms bisher zu keinen echten medizinisch-wissenschaftlichen Durchbrüchen geführt habe …

Worauf es mir hier ankommt ist: Wissenschaft funktioniert besser kooperativ als in Konkurrenz. Um Rennen zu gewinnen, muss man Risiken eingehen und vor allem Wiederholungen (und Wiederholungen und Wiederholungen …) vermeiden. Der Ruhm des Ersten wird sowieso weit überschätzt

Letztlich muss selbst Amundsen sich, trotz einer logistisch und menschlich hervorragenden Leistungen, den Ruhm des Südpolbezwingers für immer teilen: Wäre Scott lediglich als geschlagener Verlierer, aber ansonsten unversehrt aus dem Rennen gegangen, hätte man ihn vermutlich in eine Fußnote der Antarktisforschung verbannt. Doch das tragische Ende, das er mit seinen vier Polargefährten erlitt, machte ihn auch zum tragischen Helden. Und so kommt es, dass die Namen Amundsen und Scott dauerhaft mit dem Südpol verbunden sind – nicht zuletzt im Namen der dortigen Forschungsstation.

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Kommentare (4)

  1. #1 rolak
    14. Dezember 2011

    kollidieren Egos hier häufiger als Protonen

    Dies hübsche Bild ist inhaltlich anzuzweifeln 😉

    Wissenschaft funktioniert besser kooperativ als in Konkurrenz

    Das hingegen sicher nicht.

  2. #2 Dr. Webbaer
    14. Dezember 2011

    warum Wissenschaft kein Wettrennen sein sollte

    Man erinnert sich durchaus an forcierte wissenschaftliche Erfolge zu Zeiten des WW2 und aus Zeiten des Kalten Kriegs, Stichwort: Mondflug, der ja doch recht zügig umgesetzt worden ist, auch rückblickend aus der Stagnation heraus.

    Nö, interessant!, also Wissenschaft besser ohne oder mit wenig Kompetitivität…

  3. #3 Sven Türpe
    14. Dezember 2011

    Und die armen Journalisten müssen zähneknirschend über diese Wettbewerbe berichten?

  4. #4 tom
    14. Dezember 2011

    Zu viel Kooperation sollte aber auch nicht sein, da dann die unabhängige Überprüfung von Forschungsergebnissen oder gar das peer review nicht mehr glaubhaft funktionieren können. Das ist ja auch das problematische am LHC: Da das Ding so aufwendig und teuer ist, ist es weltweit einzigartig und keiner kann die Ergebnisse überprüfen (jedenfalls nicht zeitnah). Hätte CERN gestern das Higgs mit 5 sigma bei 126 GeV gemeldet, hätten wir das einfach glauben müssen.
    Zum Glück wurde der LHC mit zwei konkurrierenden Detektoren ähnlicher Zielsetzung (ATLAS und CMS) gebaut, so dass wenigstens eine gewisse unabhängige Überprüfung möglich ist.