“Classification is one of the most basic and venerable types of scientific
argument.”


beginnt ein interessanter Artikel von David Reed (pdf), der Klassifikationsmethoden in Mathematik und Biologie vergleicht.

Neben Beispielen wie der Klassifkation der platonischen Körper oder der endlichen einfachen Gruppen geht er dort auch auf die Klassifikation von Kurven ein:

To ‘classify’ all equations or curves of a given genus, one attempts to construct an object each of whose points represents one such curve. This object is known as a ‘moduli’ space.

Elliptische Kurven (d.i. Kurven mit Genus 1) sind Kurven y2=x3+ax+b.
(a und b sind irgendwelche Zahlen. Damit die Kurve keine Singularitäten hat, soll 4a3+27b2 nicht Null sein.)

Man hat also “viele” elliptische Kurven, deren Gestalt von zwei Parametern a und b abhängt. Wenn man sich “alle” elliptischen Kurven anschauen will, kann man es machen wie im Video unten und a, b verschiedene Werte durchlaufen lassen:

Etwas professioneller gemacht ist das Video von Wolfram.com, in dem aber a und b zunächst getrennt variiert werden:

Die Menge aller elliptischer Kurven bezeichnet man als Modulraum. (“Modulraum” ist eine allgemein in der Mathematik übliche Bezeichnung für eine Menge von mathematischen Objekten “modulo” einer Äquivalenzrelation. Die Theorie solcher Modulräume heißt Geometrische Invariantentheorie.)

Im Prinzip kann man den Modulraum also beschreiben als Menge aller möglichen Parameter (und muß dann noch untersuchen, welche Parameter zu isomorphen elliptischen Kurven führen). Eleganter ist es aber, stattdessen (wie in TvF 92 angekündigt) den Modulraum der flachen Tori zu benutzen.

In TvF 93 hatten wir erwähnt, daß jede (komplexe) elliptische Kurve ein Torus ist. (D.h. es gibt ein Gitter L in der komplexen Zahlenebene, so daß durch die Weierstraßsche p-Funktion und ihre Ableitung ein Isomorphismus des Torus C/L auf die elliptische Kurve gegeben wird.)

Der Moduraum komplexer elliptischer Kurven (“modulo” Isomorphie) ist also gleich dem Modulraum flacher Tori, also gleich dem Modulraum von Gittern in der komplexen Zahlenebene (“modulo” Drehstreckungen).

Den Modulraum von Gittern in der komplexen Zahlenebene (modulo Drehstreckungen) kann man aber leicht beschreiben: jedes Gitter läßt sich mittels Drehstreckung in ein Gitter überführen, das von 1 und eine Zahl τ in der oberen Halbebene erzeugt wird.

Das Bild zeigt das von 1 und τ:=0.5+0.86…i erzeugte Gitter.

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© M.Holzapfel

Das Gitter im Bild wird natürlich genauso gut auch von 1 und τ:=1.5+0.86…i erzeugt.
Man muß sich also noch überlegen, welche τ‘s in der oberen Halbebene das selbe Gitter geben.
Man kann leicht beweisen, daß 1 und τ1 genau dann dasselbe Gitter wie 1 und τ2 erzeugt, wenn τ2=(aτ1+b)/(cτ1+d) (mit ganzen Zahlen a,b,c,d) ist.

Der Modulraum von Gittern (modulo Drehstreckung) entspricht also genau der oberen Halbebene modulo der Wirkung von SL(2,Z) wie sie in TvF 91 beschrieben wurde. (Siehe auch den Beitrag zum modularen Schrank in TvF 90.) Wie dort gesehen, läßt sich die obere Halbebene (“hyperbolische Ebene”) so in ‘Dreiecke’ (mit jeweils einem Punkt im Unendlichen) zerlegen, daß jedes Dreieck aus dem grauen Dreieck durch die Wirkung einer Matrix aus SL(2,Z) entsteht:

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Der Modulraum von Gittern (modulo Drehstreckungen) ist also der Quotient der oberen Halbebene für die Wirkung von SL(2,Z). Wie schon in TvF 91 gesagt, bekommt man diesen Quotienten, in dem man die beiden gegenüberliegenden Seiten des Dreiecks (die mit der ‘Ecke im Unendlichen’) miteinander verklebt, außerdem werden die beiden Hälften der dritten Seite mittels einer Drehung verklebt. (Eigentlich handelt es sich also um ein 4-Eck, dessen Kanten verklebt werden.)
Man bekommt wieder eine hyperbolische Fläche, aber es gibt einen Punkt im Unendlichen und die Winkel um die Eckpunkte addieren sich nicht zu 360, sondern zu 120 bzw. 180 Grad.

Diese in TvF 91 beschriebene Fläche (die sogenannte Modulkurve) beschreibt dann also den Modulraum von Gittern (modulo Drehstreckungen) und damit, nach dem oben gesagten, auch den Modulraum komplexer elliptischer Kurven.

Der oben erwähnte Artikel von Reed über Klassifikation in Biologie und Mathematik beendet den Abschnitt über Mathematik übrigens mit der Bemerkung:

In fact, the existence of such a relationship of classification is so powerful a tool that mathematicians often reverse the process described above. Instead of beginning with a collection of objects and seeking an object to classify them, an object will be studied by seeking a collection of objects that it classifies! The ability to move back and forth between a collection of objects and a classifying object is thus of great benefit, even if our ignorance about both the objects to be classified and the classifying object is substantial. In this version of classification, knowledge and ignorance go hand in hand, and the very relationship of classification, rather than the completeness of our knowledge of the structure performing the classification, allows the argument to advance.

Nachtrag: Wir hatten hier den Modulraum von Gittern modulo Drehstreckung betrachtet (d.h. zwei Gitter wurden als gleich angesehen, wenn das eine durch Drehstreckung aus dem anderen hervorgeht) und einen zweidimensionalen Modulraum bekommen.
Wenn man den Modulraum von Gittern nur modulo Streckungen betrachtet (d.h. durch Drehung ineinander überführbare Gitter gelten nicht als gleich), dann bekommt man einen 3-dimensionalen Modulraum. Man kann zeigen, daß dieser Modulraum homöomorph zum Komplement der Kleeblattschlinge ist, siehe TvF 111.

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Kommentare (1)

  1. #1 sansd
    3. August 2023

    Man hat also “viele” elliptische Kurven, deren Gestalt von zwei Parametern a und b abhängt. @snow rider 3d