Axiome sind relativ unbedeutend.
In Kapitel 5 von “Wie Mathematiker ticken” geht es um Bourbaki, die Axiomatisierung und die große Vereinheitlichung der Mathematik.
Heute setzt man, um die euklidische Geometrie effizient zu bewältigen, bei den Axiomen der reellen Zahlen an, geht sodann mit Hilfe der Sprache Descartes’ (der kartesianischen Koordinaten) zur Geometrie über, setzt mehrere geometrische Tatsachen (darunter die Euklid-Hilbert-Axiome) als Theoreme ein und leitet aus diesen Tatsachen schließlich nach Art des Euklid geometrische Theoreme ab.
Wie sieht Ruelle nun also die Rolle der Axiome?
Sie sind relativ unbedeutend. Das mag überraschen nach all dem Gewese, das wir um die Definition der Mathematik mit Hilfe von Axiomen gemacht haben.
In der mathematischen Praxis geht man von einer Reihe bekannter Tatsachen aus: Dies können Axiome sein oder, was häufiger der Fall ist, bereits bewiesene Theoreme (wie der Satz des Pythagoras in der euklidischen Geometrie). Aus diesen Fakten werden sodann neue Resultate abgeleitet.
Im 20. Jahrhundert gab es noch einmal einen Versuch, die Mathematik auf eine einheitliche Grundlage zu stellen: “Nicolas Bourbaki”1, ein Projekt junger französischer Mathematiker (ab 1934) “die Analysis auf absolut rigorose Weise zu entwickeln, bis hin zur Stokes-Formel”, ausgehend von den Axiomen der Mengenlehre.
Diese Arbeiten hatten erhebliche normative Auswirkungen: Notation und Terminologie wurden sorgfältig erörtert und strukturelle Aspekte der Mathematik äußerst detailliert durchleuchtet. Im Rückblick ist Bourbakis rigorose, vereinheitlichende und systematische Denkweise eindeutig ein wichtiger Bestandteil der Mathematik des 20. Jahrhunderts – auch wenn sie nicht allen gefiel!
Ableitung von Summen, aus Bourbaki: “Functions of a real variable”
Über Bourbaki gibt es viele Anekdoten. (Lieven le Bruyn hat in den letzten Monaten einige dieser Anekdoten recherchiert und auf “neverendingbooks” veröffentlicht, z.B. hier oder hier.) Ruelle erzählt auch noch ein paar Anekfoten über Bourbaki und speziell André Weil und kommt letztlich zum Schluß:
Und was wurde aus Bourbaki? Er veränderte sich von jung und revolutionär über wichtig und etabliert zu tyrannisch und senil. […] Die Mathematik hat die Ideen Bourbakis in sich aufgenommen und ist weitergezogen.
1Vieles, was man heute in den ersten Semestern eines Mathematikstudiums lernt, geht (nicht inhaltlich, aber im formalen Aufbau und den Bezeichnungsweisen) auf Bourbaki zurück: das Zeichen ø für die leere Menge, das Zeichen ==> für die Implikation, die Abkürzungen N, Z, Q, R, C für die Mengen der natürlichen, ganzen, rationalen, reellen und komplexen Zahlen (nebst der Schreibweise mit dem doppelten Strich ℕ) sowie die Wörter bijektiv, injektiv und surjektiv.
https://oldblog.computationalcomplexity.org/media/bourbaki.jpg
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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