Wie kommen Eidechsen und Fliegen zum Gipfel? Wäre auch eine ganz andere Mathematik denkbar?

In Kapitel 14 von “Wie Mathematiker ticken” geht es um die ‘Natürlichkeit’ mathematischer Begriffe.

Mathematische Strukturen gehorchen zwar den Gesetzen der Logik, haben aber trotzdem eine menschliche (subjektive) Komponente: zwar geben die Axiome eigentlich die gesamte Mathematik vor, aber wie man an Mathematik herangeht, insbesondere welche Begriffe benutzt werden, bestimmen die Mathematiker selbst und viele mathematische Begriffe entstehen nur deshalb, weil man mit ihnen Ergebnnisse griffiger formulieren kann.

Ein Beispiel, daß Ruelle sehr ausführlich diskutiert, ist der Begriff “Kompakte Menge”:

Wer (als Nicht-Mathematiker) dem Wikipedia-Link folgt oder in das Video hineinschaut, wird den Eindruck bekommen, daß es sich hier um einen sehr künstlichen Begriff handelt – es leuchtet sicher nicht unmittelbar ein, warum man sich mit ‘kompakten Mengen’ beschäftigen sollte oder wo diese Mengen ‘natürlich’ vorkommen. Trotzdem ist ‘kompakt’ einer der meistbenutzten Begriffe in den Formulierungen mathematischer Sätze (in den verschiedensten Teilgebieten der Mathematik) – er ermöglicht es, Sätze und Theorien griffig zu formulieren (deren Wahrheit natürlich nicht von diesem Begriff abhängt, die aber anders schwerer zu formulieren und zu merken wären).

Eine offene Frage lautet, inwieweit es möglich gewesen wäre, die Mathematik mit Hilfe anderer Konzepte zu entwickeln als den uns bekannten. In unserem Vergleich mit dem Felskletterer stellt sich die Frage, ob es mehrere natürliche Wege zum Gipfel eines Felsens gibt, und die Antwort lautet häufig: Ja. Auch in der Mathematik lässt sich die konzeptuelle Struktur eines Themas vielfach unterschiedlich entwickeln. Mit der Maßtheorie vertraute Leser werden wissen, dass manche Kollegen der abstrakten Maßtheorie den Vorzug geben und andere lieber mit Radonmaßen arbeiten. Verfechter der Probabilistik wiederum (die innerhalb der Mathematikgemeinschaft ein wenig isoliert sind) untersuchen Maße mit Hilfe ihrer eigenen Terminologie (Martingale usw.), ihrer eigenen Konzepte und eigenen Intuition. Bisweilen wird aus Gründen, die außerhalb der Mathematik liegen, ein neuer Zweig der Mathematik eingerichtet, der sich letztlich als von größtem intrinsischen Interesse erweist oder ältere Teilbereiche der Mathematik erschließt. So hat das Aufkommen elektronischer Rechenmaschinen zur Entwicklung einer Algorithmentheorie mit wichtigen neuen Konzepten geführt wie dem der NP-Vollständigkeit, auf die man andernfalls kaum gestoßen wäre. An einer Geschichte war ich selbst beteiligt; sie werde ich in einem späteren Kapitel erzählen. Im Zuge der mathematischen Untersuchung eines Teilbereichs der Physik, der statistischen Mechanik im Gleichgewicht, wurde dabei das Konzept eines Gibbs-Zustandes entwickelt. Später sollten sich Gibbs-Zustände als ein bemerkenswertes Werkzeug zur Untersuchung der sogenannten Anosov-Diffeomorphismen erweisen, obwohl diese a priori nichts mit der statistischen Mechanik zu tun haben. Diese Beispiele widerlegen die Auffassung, gute mathematische Konzepte entstünden ausschließlich aus einer inneren mathematischen Notwendigkeit heraus.

Also: mathematische Konzepte gelten irgendwann als natürlich, auch wenn sie es urprünglich vielleicht nicht waren. Wäre also auch eine andere Mathematik denkbar?

Welche Struktur könnte nicht menschliche Mathematik aufweisen? In unserem Klettervergleich wären die Probleme, die eine Eidechse oder eine Fliege beim Ersteigen eines Felsens hätte, zweifellos völlig andere als die eines menschlichen Kletterers. Nun sind nicht menschliche Kletterer nur schwer vorstellbar; am Beispiel der Computer aber haben wir gesehen, dass sie mit manchen Fragen vielleicht besser zurechtkämen als wir (weil sie ein besseres Gedächtnis haben, schneller arbeiten und weniger Fehler machen.)

Gruppentheorie zum Beispiel war bis in das 18. Jahrhundert unbekannt und wird heute in der Mathematik (und der Physik und auch den anderen Naturwissenschaften) ständig verwendet.

Einmal eingeführt erwiesen sich diese Strukturen als überaus nützlich, und heute sind sie aus vielen Bereichen der Mathematik nicht mehr wegzudenken. Inwieweit aber sind diese Strukturen unumgänglich? Sind sie das erst im 18. oder 19. Jahrhundert sichtbar gewordene natürliche Rückgrat der Mathematik? Oder sind sie eine Art Gerüst – sicherlich sehr effizient, im Grunde aber künstlich? (In unserem Klettervergleich entspräche dies einer Metalleiter, mit deren Hilfe Sie mit minimalem Kraftaufwand auf den Felsen klettern könnten.)

Bilder:
en.wikipedia.org/wiki/File:2005-10-19_2238_Klettern_Eulenwand_bei_Tiefellern.jpg
de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Eidechse_Teneriffa.jpg&filetimestamp=20051208090220
es.wikipedia.org/wiki/Archivo:Fly_feeding_on_fly_01.jpg

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Kommentare (3)

  1. #1 Jörg Friedrich
    18. Juni 2010

    Der Vergleich mit der Leiter gefällt mir. Er passt zu meiner Vorstellung dass der Mathematiker so eine Art Werkzeug-Produzent ist der alles Mögliche baut und in seiner Werkstatt weglegt weil er denkt, dass man es irgendwann mal brauchen kann. Der Wissenschaftler hingegen kommt in die Werkstatt und sucht nach irgendwas, was er verwenden kann um sein aktuelles Problem zu lösen.

    Das Bild der Leiter ist auch deshalb schön, weil die Leiter zum Einen etwas Mensch-Bezogenes ist (die Abstände der Sprossen müssen den Körpermaßen des Menschen entsprechen) zum anderen muss sie auch dem Gegenstand angemessen sein, sie muss irgendwie zur Höhe und Struktur des Berges passen, der bezwungen werden soll.

  2. #2 Jörg Friedrich
    18. Juni 2010

    Der Vergleich mit der Leiter gefällt mir. Er passt zu meiner Vorstellung dass der Mathematiker so eine Art Werkzeug-Produzent ist der alles Mögliche baut und in seiner Werkstatt weglegt weil er denkt, dass man es irgendwann mal brauchen kann. Der Wissenschaftler hingegen kommt in die Werkstatt und sucht nach irgendwas, was er verwenden kann um sein aktuelles Problem zu lösen.

    Das Bild der Leiter ist auch deshalb schön, weil die Leiter zum Einen etwas Mensch-Bezogenes ist (die Abstände der Sprossen müssen den Körpermaßen des Menschen entsprechen) zum anderen muss sie auch dem Gegenstand angemessen sein, sie muss irgendwie zur Höhe und Struktur des Berges passen, der bezwungen werden soll.

  3. #3 Jörg Friedrich
    18. Juni 2010

    Der Vergleich mit der Leiter gefällt mir. Er passt zu meiner Vorstellung dass der Mathematiker so eine Art Werkzeug-Produzent ist der alles Mögliche baut und in seiner Werkstatt weglegt weil er denkt, dass man es irgendwann mal brauchen kann. Der Wissenschaftler hingegen kommt in die Werkstatt und sucht nach irgendwas, was er verwenden kann um sein aktuelles Problem zu lösen.

    Das Bild der Leiter ist auch deshalb schön, weil die Leiter zum Einen etwas Mensch-Bezogenes ist (die Abstände der Sprossen müssen den Körpermaßen des Menschen entsprechen) zum anderen muss sie auch dem Gegenstand angemessen sein, sie muss irgendwie zur Höhe und Struktur des Berges passen, der bezwungen werden soll.