Eulers Formel, topologisch interpretiert.
Wir waren hier ja eigentlich dabei, die topologische Klassifikation von Flächen zu erklären. Für die Klassifikation von Flächen muß man zunächst beweisen, daß jede Fläche triangulieren (in Dreiecke zerlegen) kann, und für den Beweis der Triangulierbarkeit braucht man zunächst den Satz von Schoenflies und den Jordanschen Kurvensatz.
Um den Jordanschen Kurvensatz elegant beweisen zu können, hatten wir in den letzten Wochen Homologiegruppen eingeführt (und noch über deren Geschichte und weitere Anwendungen geschrieben). Der Jordansche Kurvensatz wird auch in vielen elementaren Beweisen der Eulerschen Polyederformel E-K+F=2 (oft auf etwas versteckte Art) verwendet. Andererseits gibt es neben vielen elementaren auch einen sehr eleganten homologischen Beweis der Eulerschen Polyederformel. Weil die Eulersche Polyederformel ja am Anfang dieser Reihe schon vorkam, außerdem die Euler-Charakteristik eine wichtige Invariante bei der Klassifikation von Flächen ist und wir hier ja gerade dabei waren, einige elegante Beweise topologischer Sätze durch Homologieheorie vorzuführen, bietet es sich an, den auf Hopf zurückgehenden Beweis der Eulerschen Polyederformel hier (heute und nächste Woche) noch einzuschieben.
Eulers Polyederformel für die Sphäre
In TvF 2 hatten wir mal Ecken, Kanten und Flächen der platonischen Körper gezählt:
für den Tetraeder ist E=4,K=6,F=4
für den Würfel ist E=8,K=12,F=6
für den Oktaeder ist E=6,K=12,F=8
für den Dodekaeder ist E=20,K=30,F=12
für den Ikosaeder ist E=12,K=30,F=20.
Man stellt fest, daß immer
E-K+F=2.
ist. Und das stimmt nicht nur für die platonischen Körper, sondern für jede Zerlegung einer Sphäre in Polygone, z.B. für die Fußbälle aus TvF 3:
E-K+F=60-90+32=2.
Eulers Polyederformel für andere Flächen
Wenn man eine Fläche mit Henkeln, etwa einen Torus, in Polygone zerlegt, stellt man ebenfalls Gesetzmäßigkeiten fest:
Zum Beispiel für den Torus hat man immer
E-K+F=0.
E-K+F=160-320+160=0.
Und wenn man eine Fläche mit g Henkeln (zum Beispiel eine Brezel: g=2) nimmt und sie in Polygone zerlegt, wird man feststellen, daß immer
E-K+F=2-2g
ist.
Euler-Charakteristik
Was hat die Eulersche Polyederformel E-K+F=2-2g mit Homologiegruppen zu tun? Der Punkt ist: die rechte Seite 2-2g ist die sogenannte “Euler-Charakteristik” der Fläche.
Die Euler-Charakteristik Χ(X) eines Raumes X ist definiert als
Χ(X):=Σ (-1)i rank (Hi(X)),
wobei Hi(X) die i-te Homologiegruppe von X (TvF170) ist.
(Das Symbol Χ soll ein Chi sein, leider kennt HTML kein besseres.)
Für 2-dimensionale Flächen X ist das dann einfach
Χ(X)=rank (H0(X))-rank (H1(X))+rank (H2(X)),
weil alle weiteren Homologiegruppen 0 sind.
Für eine (kompakte, orientierbare) Fläche mit g Henkeln ist H0(X)=Z, H1(X)=Z2g, H2(X)=Z, also rank (H0(X))-rank (H1(X))+rank (H2(X))=1-2g+1, die Euler-Charakteristik ist also gerade die rechte Seite 2-2g aus der Eulerschen Polyederformel:
Χ(X)=2-2g.
E-K+F
Bleibt noch die linke Seite E-K+F zu interpretieren, also die Anzahlen der Ecken, Kanten, Dreiecke in einer Triangulierung.
(Eigentlich betrachteten wir ja nicht nur Triangulierungen, sondern beliebige Zerlegungen in Polygone. Aber man kann Polygone immer in Dreiecke zerlegen, und offensichtlich ändert sich E-K+F dabei nicht. Deshalb betrachten wir im Weiteren nur Triangulierungen.)
Für eine gegebene Triangulierung eines Raumes X betrachten wir die “n-te Kettengruppe” Cn(X), das ist die Gruppe der formalen Summen von Simplizes in X, d.h. die Elemente aus Cn(X) sind Summen a1σ1+…+ akσk mit ganzen Zahlen a1,…,ak und n-Simplizes σ1,…,σk.
0-Simplizes sind Ecken, 1-Simplizes sind Kanten, 2-Simplizes sind Dreiecke. Man hat also
rank (C0(X))-rank (C1(X))+rank (C2(X))=E-K+F.
Die Eulersche Polyederformel
E-K+F=2-2g
übersetzt sich also in die Behauptung
rank (C0(X))-rank (C1(X))+rank (C2(X))=rank (H0(X))-rank (H1(X))+rank (H2(X))
und das ist offenkundig eine Behauptung über Homologiegruppen. Nächste Woche zu deren Beweis – für den man erstaunlicherweise keinerlei Sätze der Homologietheorie, sondern nur die Definition der Homologiegruppen und elementare Gruppentheorie (den Homomorphiesatz und den aus diesem abgeleiteten Rangsatz) benötigen wird.
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