L.E.J.Brouwer und der Abbildungsgrad.
Abbildungen der Sphäre auf sich
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Wieviele ‘topologisch verschiedene’ Abbildungen f:S2–>S2 der Sphäre S2 gibt es?
(Topologen betrachten zwei Abbildungen als gleich, wenn sie sich die eine stetig in die andere deformieren läßt, formell: wenn sie homotop sind.
Zwei Abbildungen f,g: S2–>S2 heißen homotop, wenn es eine stetige Abbildung H:S2x[0,1] –> S2 gibt mit H(x,0)=f(x), H(x,1)=g(x) für alle x aus S2.
Die Frage ist also letztlich, ob es Invarianten gibt, anhand derer man entscheiden kann, ob zwei Abbildungen homotop sind.)
Zum Beispiel sind alle Drehungen der Sphäre zueinander homotop.
Um die Drehung D(l,α) mit Drehachse l und Drehwinkel α in die Identitätsabbildung zu homotopieren, definiert man einfach H(x,t)=D(l,tα)(x), d.h. H(.,t) ist die Drehung mit Drehachse l und Drehwinkel tα. Für t=0 bekommt man die Identitätsabbildung und für t=1 bekommt man die ursprüngliche Drehung.
Wie sähe eine Abbildung f: S2–>S2 aus, die nicht homotop zur Identität ist? Ein Beispiel ist in der englischen Wikipedia abgebildet:
Dieses (zunächst vielleicht etwas kryptische Bild) soll eine Abbildung f:S2–>S2 veranschaulichen, bei der die Sphäre zweimal um sich herumgewickelt wird, in Kugelkoordinaten: f(r,φ,θ)=(r,2φ,θ).
Abbildungsgrad
Die Invariante, mit der man letztlich entscheiden kann, ob Abbildungen der Sphäre homotop sind, ist der Abbildungsgrad.
Diesen definiert man für differenzierbare1 Abbldungen wie folgt: man nimmt einen der Bildpunkte und zählt zu diesem die Anzahl der Urbilder, in denen das Differential orientierungserhaltend (d.h. positive Determinante) resp. orientierungsumdrehend (d.h. negative Determinante) ist. Die Anzahl der positiven bzw. negativen Urbildpunkte sei p bzw. n, dann definiert man deg(f)=p-n.
In dieser Definition stecken jetzt natürlich einige Annahmen (zu deren Begründung wir wir nächste Woche noch etwas sagen) :
1. nimmt man an, daß es nur endlich viele Urbildpunkte gibt – das stimmt tatsächlich nicht unbedingt für jeden möglichen Bildpunkt, es stimmt aber für sogenannte reguläre Werte. Nach dem Sard-Lemma sind fast alle Bildpunkte reguläre Werte (insbesondere gibt es reguläre Werte) und man betrachtet dann für den Abbildungsgrad per Definition nur reguläre Werte
2. nimmt man an, daß man für verschiedene reguläre Werte mit dieser Definition denselben Abbildungsgrad bekommt – dazu nächste Woche
3. muß man natürlich beweisen, daß homotope Abbildungen denselben Abbildungsgrad haben – dazu ebenfalls nächste Woche.
1 Wir hatten ja letzte Woche begründet, daß jede stetige Abbildung homotop zu einer differenzierbaren Abbildung ist. Es genügt also, den Abbildungsgrad für differenzierbare Abbildungen zu definieren.
Beispiele
Offensichtlich gilt für die Identitätsabbildung: deg(id)=1, ebenso für jede Drehung R: deg(R)=1. Für das Bild aus der Wikipedia (wo die Sphäre zweimal um sich herumgewickelt wird) ist deg(f)=2. Für eine konstante Abbildung c ist natürlich deg(c)=0, weil es Punkte gibt, die gar kein Urbild haben. (Aus demselben Grund gilt deg=0 für jede nicht-surjektive Abbildung.)
Brouwer hatte 1911 bewiesen, daß homotope Abbildungen denselben Abbildungsgrad haben (heute kann man den Beweis stringenter formulieren, dazu nächste Woche). Insbesondere ist zum Beispiel die oben abgebildete Abbildung vom Grad 2 nicht homotop zur Identität, oder die Identität nicht homotop zur konstanten Abbildung – dies wurde in etwas versteckter Form beim Beweis des Brouwerschen Fixpunktsatzes in TvF 33 benutzt.
Zum erstenmal formuliert wurde eine Definition des Abbildungsgrades von Brouwer am Neujahrsmorgen 1910 in einem Brief an Hilbert, veröffentlicht wurde sie als “Über Abbildung von Mannifaltigkeiten” in den Mathematischen Annalen. Brouwers ursprüngliche Definition benutzte nicht Differenzierbarkeit, sondern Simplizialkomplexe und die simpliziale Approximierbarkeit stetiger Abbildungen, van Dalen kommentiert den Artikel in “Mystic, geometer and intuitionist” so:
“The importance of this paper can hardly be overestimated, it contains virtually all the tools of the new topology. It was, so to speak, a short but exhaustive course in the topology of the future. Among the many concepts introduced here, we find that of simplex, open and closed manifolds (based on simplexes), (n-imensional-)indicatrix, simplicial approximation, mapping degree, homotopy of mappings (under the name continuous deformation), singularity index (under the name degree of the simplex). The basic theorems, for example the preservation of the mapping degree under homotopy, are all proved by direct geometric methods.” Brouwer verließ später die Topologie und ist außerhalb der Mathematik heute vor allem durch seine Beiträge zum Grundlagenstreit bekannt – in letzterem verrat er philosophische Positionen, die sich übrigens mit seinen früheren topologischen Arbeiten nicht in Übereinstimmung bringen lassen, insbesondere war er später aus philosophischen Gründen gegen indirekte Beweise (wie er sie etwa beim Brouwerschen Fixpunktsatz angewandt hatte). van der Waerden dazu in einem post mortem veröffentlichten Interview: “Even though his most important research contributions were in topology, Brouwer never gave courses on topology, but always on — and only on — the foundations of intuitionism. It seemed that he was no longer convinced of his results in topology because they were not correct from the point of view of intuitionism, and he judged everything he had done before, his greatest output, false according to his philosophy. He was a very strange person, crazy in love with his philosophy.”
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