Die Klassifikation der Flächen via Morse-Theorie.

Die Klassifikation der (kompakten, orientierbaren) Flächen besagt:
Jede zusammenhängende, kompakte, orientierbare Fläche bekommt man durch Ankleben einer Anzahl von Henkeln an die Sphäre:

“Ankleben eines Henkels” meint: man bildet die zusammenhängende Summe mit einem Torus. (‘Zusammenhängende Summe’ zweier Flächen bedeutet: man schneidet aus beiden Flächen eine Kreisscheibe heraus und verklebt die Ränder dieser beiden Kreisscheiben.)

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zusammenhängende Summe

Einen analogen Klassifikationssatz gibt es auch für (zusammenhängende, geschlossene) nicht-orientierbare Flächen, diese lassen sich durch Ankleben von Henkeln an die projektive Ebene erhalten. Der Einfachheit halber beschränken wir uns im Folgenden aber auf orientierbare Flächen.

Beweise der Klassifikation

Es gibt viele Beweise des Klassifikationssatzes. Den klassischen topologischen Beweis (mittels Triangulierungen) hatten wir in TvF 178 besprochen, in TvF 179 hatten wir einen komplexeren Beweis über das Riemann-Roch-Theorem beschrieben. Ein anderer Zugang zur Klassifikation ist über den Beweis des Uniformisierungssatzes (jede Fläche hat Metriken konstanter Krümmung, womit man dann das Problem auf die Klassifikation diskreter, kokompakter Untergruppen in den Isometriegruppen von H2,E2, S2 zurückgeführt hat), für diesen gibt es den klassischen auf Riemann zurückgehenden (und von Koebe und Poincaré ausgearbeiteten) analytischen Beweis mittels Lösung des Dirichlet-Problems (TvF 67) und einen ‘diskreten’ Beweis von He und Schramm mittels Kreispackungen (TvF 68), oder auch einen neueren Beweis mit Hilfe des Ricci-Flusses (später in dieser Reihe).

Der wohl konzeptuellste Beweis der Klassifkation von Flächen benutzt Morse-Theorie. Wir hatten ja in den letzten Wochen schon verschiedene (eher in höheren Dimensionen interessante) Anwedungen der Morse-Theorie besprochen (etwa auf die Topologie des Wege-Raums in TvF 222, Bott-Periodizität in TvF 223, Morse-Homologie und Morse-Ungleichungen in TvF 216 und TvF 217 sowie deren Verallgemeinerung zur Floer-Homologie in TvF 226). Heute also die eigentliche Hauptanwendung der Morse-Theorie im Kontext unserer “Topologie von Flächen”-Reihe, nämlich ein einsichtiger Beweis für die Klassifikation der Flächen.

Morse-Theorie


Das Hauptresultat der Morse-Theorie war ja, dass man Flächen (oder auch höher-dimensionale Mannigfaltigkeiten) in Henkel zerlegen kann, siehe TvF 221: man nimmt eine Morse-Funktion f:M—>R, sieht sich die Sublevelmengen {x in S: f(x) ≤ c} an und schaut, wie sich deren Topologie mit wachsendem c ändert.

Bild aus Milnor: Morse Theory

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Die Topologie ändert sich immer gerade dann, wenn man einen kritischen Punkt passiert. Insbesondere entspricht das Passieren eines Sattelpunktes dem Ankleben eines 1-Henkels, also entweder eines Zylinders oder eines Möbiusbandes. (Die beiden sind zwar homotopieäquivalent, aber nicht diffeomorph.)

Wenn wir uns der Einfachheit halber mal auf orientierbare Flächen beschränken (also nur den Klassifikationssatz für geschlossene, orientierbare Flächen beweisen), dann entspricht das Passieren eines Sattelpunktes also dem Ankleben eines Zylinders(Bild unten links), oder, was das selbe ist, dem Ankleben einer “Hose” (Bild unten rechts).

Damit hat man dann auch schon alles parat um den Klassifikationssatz für Flächen mittels Induktion nach der Anzahl der Sattelpunkte einer Morse-Funktion zu beweisen.

Beweis des Klassifikationssatzes mit Morse-Theorie

Wir wollen beweisen, dass sich jede (kompakte, orientierbare, zusammenhängende) Fläche S durch Ankleben von Henkeln aus einer Sphäre konstruieren lässt.

Aus TvF 209 wissen wir, dass es auf jeder Fläche Morse-Funktionen f:S—>R gibt. Wir führen den Beweis jetzt durch vollständige Induktion nach der Anzahl der Sattelpunkte von f.

Zunächst der Induktions-Anfang: f habe 0 Sattelpunkte, d.h. alle kritischen Punkte sind lokale Maxima oder Minima. Die Flußlinien des Gradientenflußes (TvF 210) fließen dann also alle von einem Minimum zu einem Maximum.
Tatsächlich kann es dann aber nur ein lokales Maximum geben: der “Einzugsbereich” eines Maximums, d.h. die Menge derjenigen Punkte, die mit dem Gradientenfluß in dieses Maximum fließen, ist ja eine offene Menge – eine zusammenhängende Fläche läßt sich aber nicht in mehrere offene Mengen zerlegen (selbst nach Herausnahme der lokalen Minima), also gibt es nur ein lokales Maximum. Analog beweist man, dass es nur ein lokales Minimum gibt. Damit kann man aber (analog zum Beweis in TvF 210) leicht einen Hom&oumlomorphismus zur S2 konstruieren: man bildet das lokale Minimum auf den Südpol, das lokale Maximum auf den Nordpol und die Flußlinien jeweils auf die Großkreise der Sphäre ab.

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Wenn es eine Morse-Funktion mit 0 Sattelpunkten gibt, dann ist die Fläche also homöomorph zur Sphäre.
Wir nehmen jetzt induktiv an, der Satz sei für k-1 bewiesen, d.h. wenn es auf einer Fläche eine Morse-Funktion mit k-1 Sattelpunkten gibt, dann entsteht die Fläche aus der Sphäre durch Ankleben endlich vieler Henkel. Wir wollen die selbe Aussage beweisen, wenn es eine Morse-Funktion mit k Sattelpunkten gibt.

f:S—>R habe also k Sattelpunkte. Sei x ein Sattelpunkt, f(x)=c. Dann wissen wir aus dem vorigen Abschnitt, dass eine Umgebung f-1(c-ε,c+ε) von x wie eine Hose aussieht. Wir können eine neue Fläche S’ erhalten, indem wir die Hose herausschneiden und in den 3 Randkreisen der verbleibenden Fläche jeweils Kreisscheiben einkleben. Unsere Morsefunktion war auf den 3 Randkreisen jeweils konstant, wir können sie also problemlos auf die Fläche S’ fortsetzen, so dass sie in den neu hinzugekommenen Kreisscheiben jeweils ein lokales Extremum hat. (Insbesondere kommen keine Sattelpunkte hinzu.)

Die neue Morse-Funktion auf der Fläche S’ hat also k-1 Sattelpunkte. Wir können jetzt die Induktionsvoraussetzung anwenden und folgern, dass S’ aus der Sphäre durch Ankleben von Henkeln entsteht. (Falls S’ zusammenhängend ist. Falls S’ nicht zusammenhängend ist, hat die Morse-Funktion auf jeder Zusammenhangskomponente erst recht höchstens k-1 Sattelpunkte, womit die Komponenten dann jeweils aus der Sphäre durch Ankleben von Henkeln entstanden sind.)

Was bedeutet das jetzt für die ursprüngliche Fläche S? Je nachdem ob die durch Herausschneiden der Hose H entstandene Fläche S’ unzusammenhängend oder zusammenhängend ist, hat man zwei oder eine aus Henkeln zusammengesetzte Fläche und Einkleben der Hose H liefert uns dann also die ursprüngliche Fläche S, die damit ebenfalls aus Henkeln zusammengesetzt ist:


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