Wenn in Korea, wo ich seit zwei Jahren arbeite, Mathematiker die Entwicklung ihres Faches in den letzten 30 Jahren veranschaulichen wollen, erwähnen sie gerne, dass die Zahl der Veröffentlichungen koreanischer Mathematiker in Fachzeitschriften in dieser Zeit von 3 (drei) im Jahre 1981 auf aktuell mehr als 50.000 (fünfzigtausend) pro Jahr gestiegen wäre. Diese Zahlen vermitteln den Eindruck, dass es vor dreißig Jahren keine koreanischen Mathematiker gegeben hätte, aber das trifft natürlich so nicht zu. Tatsächlich gab es keine Forschung an den nur auf Lehre ausgerichteten Universitäten. Es gab aber trotzdem viele koreanische Wissenschaftler: wer forschen wollte, ging ins Ausland, meist in die USA, wo ja zu jener Zeit auch der Lebensstandard noch viel höher war als im vom Korea-Krieg völlig zerstörten Südkorea.

Das änderte sich erst, als man in den 80er Jahren auch mit Doktorandenkursen an koreanischen Universitäten begann. Zwangsläufig etablierte sich in der Folge Forschung gleichberechtigt zur Lehre an den Universitäten.

Eine ähnliche Problematik gibt es heute in vielen Entwicklungsländern. Oft ist es billiger, die wenigen Doktoranden mit Stipendien ins Ausland zu schicken, als eigene Promotionsprogramme anzubieten. Und selbst wenn das Geld für Promotionsprogramme vorhanden ist, fehlen die Wissenschaftler, die Promotionen betreuen könnten.

Vor diesen Problemen steht man natürlich auch im Sudan. Am Informatik-Fachbereich der Sudan University of Science and Technology (SUST) in Khartum geht man nun seit fast fünf Jahren einen neuen Weg, indem ausländische Professoren in “Teilzeit” einheimische Doktoranden betreuen. Darum soll es in diesem Artikel gehen.

Etwas Hintergrund

Zunächst ein paar allgemeine Hintergrundinformationen zum sudanesischen Schul- und Hochschulwesen. Im Sudan gibt es ein gutes Dutzend von alle Fächer abdeckenden staatlichen Universitäten, außerdem private Colleges und Universitäten, die sich auf populäre lukrative Fächer wie Medizin oder Politik konzentrieren, teilweise auch Informatik oder Physik, aber jedenfalls keine Mathematik anbieten. Das Schulsystem (8 Jahre Grundschule, 3 Jahre Oberschule) ist besser als in vielen anderen afrikanischen Ländern, grundsätzlich gehen alle Kinder zur Schule, Schwierigkeiten gibt es natürlich in instabilen Regionen (Krieg mit Südsudan) und teilweise auch bei nomadischen Stämmen. Abiturienten haben also bei Aufnahme eines Studiums vergleichbare Voraussetzungen wie in europäischen Ländern.
Die Fakultäten sind für unsere Verhältnisse recht klein. Die SUST hat in der Mathematik drei volle und einen assozierten Professor, außerdem einige Assistenzprofessoren. In der Informatik gibt es ausschließlich Asssistenzprofessoren, fast alle unter 30, Dekan ist allerdings ein ursprünglich als Mathematiker ausgebildeter älterer Assistenzprofessor. Die Professoren haben alle einen PhD, über die Promotion hinaus aber keine Forschung betrieben. (An den Informatik-Fachbereichen mancher anderer Hochschulen gibt es überhaupt keine promovierten Mitarbeiter, sondern nur teilzeitbeschäftigte Lehrkräfte mit Master-Abschluß.)

Bisher

Keine aktive Forschung bedeutet natürlich auch, dass es schwierig ist, Themen für Doktor- und auch Master-Arbeiten zu finden. Wenn man einen Professor nach einer Masterarbeit frage, sei eine typische Antwort “kein Problem, bring mir einen Thema und einen Betreuer, dann geht das”. Studenten suchen sich teilweise zu ihren Themen passende Betreuer an anderen Universitäten.

Ungleich schwieriger wäre es natürlich, einen Betreuer für eine Doktorarbeit zu finden. Zwar gab es an der SUST schon seit Anfang der Nuller Jahre ein Promotionsprogramm, die Studenten wurden aber auf Kosten der Universität ins Ausland geschickt, zum Beispiel nach Malaysia oder Südafrika, denn dort sind die Kosten niedriger als in den USA oder Großbritannien. (Mit dem Geld für eine Promotion in Großbritannien kann man drei Promotionen in Malaysia bezahlen. Die Universitäten finanzieren sich übrigens aus Studiengebühren, es gibt kaum staatliche Unterstützung.)

Ein neues Programm

Die Lösung, die vielleicht Vorbildcharakter für andere Länder haben könnte: seit 2010 werden ausländische Professoren in “Teilzeit” als Betreuer für einheimische Studenten eingestellt. Sie kommen aus Deutschland, den USA, Großbritannien, aber auch asiatischen Ländern, Tunesien oder Südafrika. Ihre Bezahlung liegt (für das erste Jahr, in dem sie ihre künftigen Doktoranden online unterrichten) bei insgesamt 4000$, dazu werden Flüge und Hotel übernommen.

Es werden 12 Professoren im Jahr als Betreuer eingestellt, die dann jeweils etwa drei Doktoranden übernehmen sollen. (Es gibt eine Leistungszulage von jährlich 1500$ für jede tatsächlich betreute Promotion.) Bei den Professoren handelt es sich einerseits um junge Professoren um die 40, die auf diese Weise Doktoranden anwerben wollen, andererseits um ältere Professoren jenseits der 60, die dazwischenliegenden Jahrgänge sind praktisch nicht vertreten. Manche Professoren bewerben sich auch in den folgenden Jahren wieder, um weitere Doktoranden zu übernehmen.

Wie es funktioniert

Konkret sieht das Doktorandenstudium so aus.

Die angehenden Doktoranden belegen zunächst für ein Semester mehrere den Einstieg in eine Promotion vorbereitende Online-Kurse.

Am Beginn des zweiten Semesters kommen die ausländischen Professoren für mindestens eine Woche nach Khartum, sprechen mit den Studenten und halten einen zweistündigen Vortrag. Die Studenten erhalten so einen Eindruck von den Forschungsgebieten der potentiellen Betreuer und können sich am Ende der Woche für zwei der Professoren als mögliche Betreuer entscheiden. Bei diesen beiden Professoren belegen sie dann jeweils (gemeinsam mit den anderen Doktoranden, die sich für diesen Professor entschieden haben) das zweite Semester über einen Online-Kurs, der der Einführung in das Forschungsgebiet des jeweiligen Professors dient und mit einer Prüfung am Ende des zweiten Semesters abgeschlossen wird. Die Online-Kurse werden mit üblicher Software wie WebEx abgehalten, die auch ein “Chatten” der Professoren mit den Studenten ermöglicht, also das Stellen von Fragen, Übungsaufgaben usw.

Während des zweiten Semesters arbeiten die Studenten also noch auf zwei mögliche Promotionsthemen hin, am Ende des zweiten Semesters entscheiden sie sich für einen Betreuer. Das dritte Semester dient dann der Einarbeitung in das Promotionsthema und muß zu einer Veröffentlichung (zum Beispiel in einem Konferenzband) führen. Am Ende des dritten Semesters gibt es auch noch einmal eine mündliche Prüfung (oder eher Vorstellung des Promotionsthemas), an der neben dem Betreuer noch zwei weitere Professoren teilnehmen.

Nach den stark strukturierten ersten drei Semestern geht es mit der eigentlichen Arbeit an der Dissertation danach dann natürlich normal weiter. Wie üblich bleibt es den Betreuern und Doktoranden überlassen, wie sie die weitere Zusammenarbeit organisieren.

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Der Inhalt des Artikels stammt aus einem längeren Gespräch mit Rasha Osman, offizielle Informationen findet man in den beiden folgenden PDFs:

Call for Supervisors
Description of PhD

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Blog des Heidelberg Laureate Forum.

Kommentare (8)

  1. #1 Realistischer
    28. September 2014

    Merkwürdig ist, dass zu solchen inhaltsreichen, relevanten und tatsächlich weltbewegenden Beiträgen wie dem hier keine Postings kommen, wogegen inhaltlich schwache Beiträge mit sachlich zweifelhaften Inhalten viele Postings anziehen. Man könnte meinen, die Anzahl der Postings ist ein Kontra-Indikator für inhaltliche Qualität.

  2. #2 CM
    28. September 2014

    Wieso, Realistischer? Das ist ein superinteressanter Artikel – aber ich bin weder Professor, noch habe ich irgendwas auszusetzen ;-).

  3. […] Ich hatte auf dem HLF-Blog auch noch zwei Artikel zur Mathematik und Informatik in Entwicklungsländern geschrieben; diese Beiträge werde ich hier auf diesem Blog (gleich) noch einmal direkt einstellen, weil das Thema doch eine größere Leserschaft verdient hat. Mathematik und Informatik in Kambodscha, Niger, Indien, Bangladesh und Ecuador Doktorväter/mütter für Afrika […]

  4. #5 Frank
    Frankfurt
    22. März 2015

    Um eine Doktorarbeit zu schreiben braucht man eine aktive Forschung in einem Land. Diese muss durch attraktive Bildungsprogramme angeboten werden. Leider spielt der finanzielle Aspekt wieder eine ausschlaggebende Rolle…

  5. #6 Thilo
    23. März 2015

    Geld ist in begrenztem Rahmen durchaus vorhanden, die Leute werden ja (mit dem Geld aus den Studiengebuhren) zum Promovieren ins Ausland geschickt und erhalten dafur auch Stipendien. Nach erfolgreicher Promotion und Ruckkehr an die Heimatuni ist dann aber oft Schluss mit der aktiven Forschung, weil dort die erforderliche Infrastruktur und das Umfeld fehlen.

  6. #7 Norbert
    Nürnberg
    19. Juni 2016

    In dem Artikel sind einige Gründe für und wider Auslandsstudium aufgeführt.
    https://www.textundwissenschaft.de/blog/detailseite/studium-im-auslandbr-bereichernd-aber-nicht-fuer-jeden-erschwinglich/

  7. #8 Felix
    Gelsenkirchen
    23. Februar 2018

    Ob ein Studium oder ein Forschungsaufenthalt in USA angesichts der zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit dort noch erstrebenswert ist, muss jeder für sich selbst beurteilen
    https://www.textundwissenschaft.de/2017/03/20/wissenschaft-als-fake-news/