Wir hatten vor zwei Monaten mal über mathematische Theorien geschrieben, in denen aus der Verneinung einer Verneinung nicht die Richtigkeit der doppelt verneinten Aussage folgen würde, in denen also der “Satz vom ausgeschlossenen Dritten” und demzufolge dann auch das Auswahlaxiom nicht gälte.
In einer Welt ohne Auswahlaxiom und ausgeschlossenes Drittes könnte jede Menge messbar sein (im Sinne der Maß- und Integrationstheorie, man könnte jeder noch so komplizierten Menge ein Volumen zuordnen). Insbesondere gäbe es das Banach-Tarski-Paradox nicht, welches besagt dass man eine Kugel in Stücke zerlegen und aus diesen anders zusammengesetzt zwei Kugeln derselben Größe bauen kann – denn das geht natürlich nur, wenn die Stücke nicht-messbare Mengen sind, sonst hätte man ihr Volumen verdoppelt.
Das Banach-Tarski-Paradox war ursprünglich 1914 von Felix Hausdorff entdeckt worden, der damit das Auswahlaxiom widerlegen wollte. Sein 102. Jahrestag gab den Anlaß zur Gau\ss -Vorlesung ”Hundert Jahre Zweisamkeit” Ende Mai in Dresden, über den damals im Anschluß produzierten Podcast hatten wir hier mal geschrieben. (Außerdem hatten wir hier mal ein Video zu den physikalisch-philosophischen Implikationen des Banach-Tarski-Paradox verlinkt und dort ein eher nicht so gelungenes Beispiel der Popularisierung.)
Auch auf der Frage- und Antwortseite mathoverflow.net gibt es in unregelmäßigen Abständen immer wieder Kontroversen über das Auswahlaxiom, die nicht-meßbaren Mengen und die physikalische Realität, mit vielen interessanten Argumenten. Einige Auszüge:
The universe can be very a strange place without choice. One consequence of the Axiom of Choice is that when you partition a set into disjoint nonempty parts, then the number of parts does not exceed the number of elements of the set being partitioned. This can fail without the Axiom of Choice. In fact, if all sets of reals are Lebesgue measurable, then it is possible to partition
into more than
many pairwise disjoint nonempty sets!
(Dr. Strangechoice in: “Why worry about the axiom of choice?”, https://mathoverflow.net/questions/22927/why-worry-about-the-axiom-of-choice?)
There are some very nice examples of non-Borel sets. Two that I particularly like are the differentiable functions (as a subset of the space of continuous functions on $\left[0,1\right]$, say) and the set of all infinite graphs that contain an infinite clique (as a subset of the set of all graphs with vertex set ${\bf N}$ with the product topology). In general, a continuous image of a Borel set need not be Borel, and many natural non-Borel sets arise this way.
(Timothy Gowers in: “Non-Borel sets without axiom of choice”, https://mathoverflow.net/questions/32720/non-borel-sets-without-axiom-of-choice)
In ergodic theory Lebesgue vs. Jordan is a critical distinction. Whether or not the Stosszahlansatz etc. are physically meaningful as you mean here, such things are of fundamental import to the theory of statistical physics and chaos.
To give a particular toy example in this vein: the SRB measure of a hyperbolic toral automorphism is Lebesgue measure. Consider the pushforwards of a small ball: in the limit, that set will be Lebesgue but not Jordan measurable. But one wants (needs?) the Liouville theorem and ergodic hypothesis.
(Steve Huntsman in: “Physical meaning of the Lebesgue measure”, https://mathoverflow.net/questions/238153/physical-meaning-of-the-lebesgue-measure)
There are two ingredients in the Banach-Tarski decomposition theorem:
1. The notion of space, together with derived notions of part and decomposition.
2. The axiom of choice.
Most discussion about the theorem revolve around the axiom of choice. […] Somewhat amazingly, we can make the Banach-Tarski decomposition go away by extending the notion of subspace, and keep choice too. Alex Simpson in Measure, Randomness and Sublocales (Annals of Pure and Applied Logic, 163(11), pp. 1642-1659, 2012) shows that this is achieved by generalizing the notion of topological space to that of locale. […]
(Andrej Bauer in: “Axiom of choice, Banach-Tarski and reality”, https://mathoverflow.net/questions/238153/physical-meaning-of-the-lebesgue-measure)
Es lohnt sich die zitierten Diskussionsstränge in ihrer Gänze zu lesen, nicht zuletzt weil die hier von mir zitierten Antworten durchaus unrepräsentativ sind.
Die Sichtweisen sind dabei ungefähr so vielfältig wie in Juli Zehs Roman, wo ja die Perspektiven und auch die reinen Fakten in jedem Kapitel und bei jedem Erzähler unterschiedlich sind.
Warum sollte man mittels Auswahlaxiom für die Kategorie der Mengen postulieren, dass jeder Epimorphismus spaltet, wenn dies in vielen anderen Kategorien doch nun einmal nicht der Fall ist? Und warum sollte man durch das Auswahlaxiom eine Ähnlichkeit zwischen endlichen und unendlichen Mengen postulieren, für die es keinen objektiven Grund gibt? Oder pragmatischer: die meisten Anwendungen des Lebesgue-Maßes benötigten nicht die -Algebra der messbaren Mengen, sondern nur die der messbaren Mengen modulo Nullmengen – diese ist aber separabel und liesse sich also durch abzählbare Konstruktionen physikalisch interpretieren.
Andererseits, wenn das Auswahlaxiom nicht gälte und man also Modelle der Mengenlehre hätte, in denen alle Mengen meßbar wären, dann könnte man in mehr als
disjunkte Teilmengen zerlegen. Also eine Menge in mehr Teilmengen zerlegen als sie Elemente hat, was doch viel unintuitiver ist als das Banach-Tarski-Paradox.
Und das Auswahlaxiom ist äquivalent zu solch offensichtlich wahren Aussagen wie ”das kartesische Produkt einer nichtleeren Familie nichtleerer Mengen ist nicht leer”. Was aber auch als Argument dagegen verwendet wird, denn warum sollten unendliche Produkte nichtleer sein? Oder: nicht-meß bare Mengen kämen in der Wirklichkeit durchaus vor, beispielsweise die Menge der differenzierbaren Funktionen als Teilmenge des Raums der stetigen Funktionen.
Und es gibt die pragmatischen Argumente. Damit das Lebesgue-Maß seine gewünschten Eigenschaften hat, darf nicht die abzählbare Vereinigung abzählbarer Teilmengen sein und dafür braucht man das Auswahlaxiom. Und die Eigenschaften des Lebesgue-Maßes wiederum braucht man in der Physik für Boltzmanns Stosszahlansatz oder für die Konstruktion des SRB-Maßes auf Attraktoren chaotischer Systeme. Man braucht das Auswahlaxiom auch, um die
Definition der Stetigkeit durch die
Definition zu ersetzen. Nicht zu reden von den vielen Anwendungen in Funktionalanalysis und Quantenmechanik, angefangen mit dem Spektralsatz. Andererseits benötigt man in vollständigen Hilberträumen für den Beweis des Spektralsatzes gar nicht das Auswahlaxiom, sonden nur das beschränkte Auswahlaxiom … Keine Einigung in Sicht.
Insbesondere gibt es auch zahlreiche Wortmeldungen, die den Unterschied zwischen mathematischen Modellen und physikalischer Realität betonen und nicht nur das Auswahlaxiom, sondern auch seine Konsequenzen ausschließlich der Welt der Mathematik zuordnen wollen.
As for the lack of need for the axiom of choice in the “paraphernalia of theoretical physics”, as DeWitt puts it, one should keep in mind that this statement may hold true for the definitions of the mathematical objects he lists, but not necessarily for the ensuing results. A typical example is the spectral theorem – a cornerstone of both Hilbert space and
-algebra theories, and fundamental to quantum mechanics -, which relies on the Stone-Weierstrass theorem (for the continuous functional calculus) and also on the Riesz representation theorem (for the
functional calculus).
Yes, many theorem-proving physicists like the spectral theorem; other physicists do not consider any theorems fundamental; de Witt would probably be in the middle. Saying that this theorem is fundamental to quantum mechanics is making a judgment about physics and the use of math in it, of the same sort as our judgments about math and the use of choice in it.
Und dann gibt es noch den Hinweis, dass physikalische Konsequenzen des Banach-Tarski-Paradoxons bereits 1949 in Henry Kuttners Erzählung ”Die Zeitachse” beschrieben worden seien …
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