Die Philosophie liebt Gedankenexperimente – machen wir eins: In 30 Jahren hat die Neue Rechte ihren Marsch durch die Universitäten abgeschlossen. Bundesbildungsminister Marc Jongen hat schon längst die Gender Studies auf den Scheiterhaufen der Ideengeschichte geschickt. Die AfD-Stiftung finanziert an den Universitäten Graduiertenkollegs; man assoziiert nicht mehr drauf los wie der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz, sondern denkt wie der Althistoriker Egon Flaig.
Dieses Gedankenexperiment stammt aus einem Beitrag des Philosophen Dieter Schönecker im Deutschlandfunk Kultur vom 14. März. Marc Jongen, falls das jemand nicht weiß, ist so eine Art Chefphilosoph des neurechten Zeitgeistes oder jedenfalls der AfD (und bis vor kurzem ihr Landesvorsitzender in Baden-Württemberg), der davon träumt, „die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff“ zu nehmen, und der beispielsweise die Kürzung von Subventionen fordert, weil deutsche Theater sich immer wieder „an den zwölf Jahren des Dritten Reichs“ abarbeiten, „Schauprozesse“ veranstalten und sich „zur antifaschistischen Erziehungsanstalt“ reduzieren würden. (Überflüssig zu erwähnen, dass sowohl Schönecker als auch Jongen sich dabei jederzeit gerne als Opfer einer angeblich eingeschränkten Meinungsfreiheit zu inszenieren verstehen, also genau dessen, was sie ja gerade anstreben. So berichtet etwa das Campusradio der Uni Siegen, dass die Universität Schönecker für eine Einladung Jongens das Honorar verweigert hätte, worin Schönecker eine massive Einschränkung der Lehrfreiheit sieht. Tatsächlich war es so, dass Jongen für einen Seminarvortrag vor ca. 20 Studenten das offensichtlich unangemessene Honorar von 500 Euro erhalten sollte und die Universitätsleitung nur darauf bestand, dass dieses aus den Mitteln von Schöneckers eigenem Lehrstuhl statt aus anderen Universitätsmitteln bezahlt werde, wie es dann auch geschah.)
Im Hauptberuf ist Herr Schönecker Neukantianer; so nennt man Philosophen, die meinen, dass Immanuel Kant bisher immer falsch interpretiert wurde und man ihn deshalb völlig neu lesen sollte. Im Anfang war das Wort, sozusagen. In dieser Funktion hat er letztes Jahr auch ein Buch „Kant zur Philosophie der Mathematik“ im mentis Verlag herausgegeben. Dieser Band ist einfach eine chronologisch geordnete Zusammenstellung fast aller Texte Immanuel Kants, in denen etwas zur Mathematik vorkommt; die Herausgeber ersparen sich und uns also immerhin eine zeitgeistgemäße Neuinterpretation zu Kants Mathematikphilosophie.
Eine Darstellung von Kants Mathematikphilosophie hat es übrigens schon vor zwanzig Jahren gegeben (Darius Koriako: Kants Philosophie der Mathematik). Der damalige Autor war zu dem Schluß gekommen, dass Mathematik bei Kant ein Hilfsmittel zum Verständnis philosophischer Fragen ist, aber nicht umgekehrt.
Texte von Marc Jongen zu Kant oder zur Mathematikphilosophie habe ich keine gefunden, sein hauptsächliches Thema ist der Thymos, den er dem Zeitgeist entsprechend eher kriegerisch und aggressiv interpretiert haben möchte, was er dann aber auch gerne wieder relativiert; so antwortet er in einem Interview auf eine entsprechende Frage zu Björn Höcke:
Es ist die Romantisierung, hinter der man den Übermut vermutet, denn diese Sprache erinnert an übermütige Zeiten. […] Viel eher gehen wir an Missmut und Kleinmut zugrunde. Von daher verlieren auch Höckes Aussagen, in eine andere, modernere Sprache übersetzt, sehr rasch ihren Gruselfaktor.“
Und in der Zeitgeistpostille Sezession des Friedensforschers Götz Kubitschek äußert er sich so:
Wer dies [die umfassende Selbstabschaffung] nicht will, für den bleibt nur ein Weg offen: die Verjüngung der eigenen Selbstbehauptungskräfte durch Besinnung auf die genetischen Grundlagen der Kultur. […] Krieg und Bürgerkrieg vermeidet man nicht, indem man die gewaltsamen Quellen der Kultur verleugnet und mit illusionären Scheinwerten übertüncht, sondern indem man ihnen ins Auge blickt, sie einhegt und in eine zivile Wehrhaftigkeit überführt.
Immanuel Kant war bekanntlich der Autor des philosophischen Einwurfs „Zum ewigen Frieden“, über den beispielsweise Ernst-Otto Czempiel 1995 in einem FR-Artikel „Europas Wegweiser zum Frieden. Über Immanuel Kant und die Aktualität seiner strategischen Konzepte“ schrieb:
Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa und der GUS folgten genau dem Kantischen Script: Die Demokratie breitet sich von selbst aus, weil sie das Herrschaftssystem ist, das die gesellschaftlichen Anforderungen nach wirtschaftlicher Wohlfahrt und herrschaftlicher Partizipation, natürlich auch nach Frieden, optimal, wenn auch nicht maximal, erfüllt.
Es wird einiger Interpretationskünste bedürfen, um Kants Werk im Sinne von Jongens Philosophie neuzuinterpetieren.
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