Der heute als Lebesgue-Integral bekannte Meßbarkeits- und Integralbegriff wurde 1901 von Henri Lebesgue in einer kurzen Notiz „Sur une généralisation de l’intégrale définie“ in den Comptes Rendus de l‘Academie des Sciences und im Jahr danach ausführlich in seiner Paris bei Émile Borel geschriebenen (und in den Annali di Matematica in Mailand veröffentlichten) Dissertation „Intégrale, Longueur, Aire“ entwickelt. Lebesgue selbst erklärte das Prinzip später so:

Angenommen, ich muss einen bestimmten Betrag bezahlen; ich durchsuche meine Taschen und finde dort Münzen und Geldscheine von unterschiedlichem Wert. Ich gebe sie an meinen Gläubiger in der Reihenfolge, in der ich sie finde, solange, bis ich den Gesamtbetrag meiner Schulden erreicht habe. Das ist das Integral von Riemann. Aber ich kann auch anders vorgehen. Wenn ich das gesamte Geld (aus meinen Taschen) herausgenommen habe, lege ich die Geldscheine von gleichem Wert aufeinander, bei den Münzen verfahre ich ebenso, und ich leiste meine Zahlung, indem ich die Zahlungsmittel von gleichem Wert jeweils gemeinsam übergebe. Das ist mein Integral.


Statt wie bei Riemann die Funktion durch Treppenfunktionen auf festgewählten Intervallen zu approximieren, unterteilt er den Wertebereich in endlich viele Intervalle und betrachtet Funktionen fn, die f entsprechend dieser Unterteilung des Wertebereichs immer besser approximieren, also monoton gegen f konvergieren, und aber auf den Urbildern von (immer kleiner werdenden) Intervallen des Wertebereichs konstant den kleinsten in diesem Intervall liegenden Funktionswert annehmen. Für eine meßbare Funktion f sind diese Urbilder meßbar und weil die fn jeweils nur endlich viele Werte annehmen, kann man also das Integral von fn einfach als Summe bestimmen, deren Summanden jeweils das Maß des Urbildes mal dem Funktionswert sind. Das Lebesgue-Integral einer nichtnegativen Funktion f ist dann per Definition der Grenzwert \int f=\lim_{n\to\infty}\int f_n . (Und eine beliebige Funktion zerlegt man als Differenz zweier nichtnegativer Funktionen und integriert dann beide einzeln.)

Damit diese Definition einen eindeutigen Wert ergibt, muß man natürlich beweisen, dass der Grenzwert nicht von der gewählten (monoton gegen f konvergierenden) Folge fn abhängt. Das zu zeigen ist nicht schwer und es gilt auch allgemeiner der nach Beppo Levi benannte Satz von der monotonen Konvergenz, demzufolge \int f=\lim_{n\to\infty}\int f_n immer gilt, wenn man eine monoton gegen eine meßbare Funktion konvergierende Folge nichtnegativer Funktionen fn hat. (Nicht nur, wie in der Definition des Lebesgue-Integrals für Folgen fn, deren Glieder jeweils nur endlich viele Werte annehmen.)

Ein schwierigerer von Lebesgue bewiesener Satz war der Satz von der dominierten Konvergenz: hier verzichtet man auf die Monotonie der Funktionenfolge und verlangt nur noch, dass sie gegen f konvergiert und es eine integrierbare Funktion g gibt, die punktweise größer ist als alle fn. Unter diesen schwächeren Voraussetzungen folgt auch wieder \int f=\lim_{n\to\infty}\int f_n . (Die Bedingung der Dominanz durch eine integrierbare Funktion ist notwendig. Ein Gegenbeispiel ohne diese Voraussetzung ist die punktweise gegen Null konvergierenden Funktionenfolge fn, die auf dem Intervall (0,1/n) den Wert n und sonst den Wert 0 annimmt. Ihr Integral der fn immer 1, das Integral der Grenzfunktion f=0 aber natürlich 0.) Diesen Satz benötigt man, um für Riemann-integrierbare Funktionen die Übereinstimmung von Riemann- und Lebesgue-Integral zu beweisen, und vor allem benötigt man ihn zum Beweis der σ-Additivität des Lebesgue-Integrals – eine Eigenschaft, die für Beweise (auch außerhalb der Integrationstheorie) häufig benötigt wird und letztlich der wesentliche Vorteil von Lebesgues Integral-Definition war.

Lebesgues Arbeit wurde zunächst in Frankreich weniger anerkannt als im Ausland. Viele französische Mathematiker hielten die Mengenlehre und die Beschäftigung mit pathologischen (z.B. nicht Riemann-integrierbaren) Funktionen für überflüssig. Hermite sprach von einer Plage der nicht differenzierbaren, stetigen Funktionen. Poincaré beklagte, dass man heute mit dem Erfinden von Funktionen keine sinnvollen Ziele mehr verfolge, sondern nur die Argumente der Väter in Zweifel ziehen wolle, ohne dass dabei etwas herauskomme. Borel wiederum, Lebesgues nur vier Jahre älterer Doktorvater, meinte, Lebesgue habe doch zu seiner Definition Borel-meßbarer Mengen nur noch die Nullmengen hinzugefügt. Außerdem kritisierte er die nicht-konstruktive Natur der Lebesgue-meßbaren Mengen. (Die Existenz nicht-meßbarer Mengen läßt sich nur mit dem Auswahlaxiom beweisen, das man damals freilich noch nicht kannte. Der erste Beweis gelang Vitali 1905.)

Der allgemeinere Integralbegriff wurde in den nächsten Jahren von Bedeutung in der weitere Entwickkung der Funktionalanalysis, und der Satz von der dominierten Konvergenz fand zahlreiche Anwendungen in Analysis und Stochastik.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LebesgueH.gif

Kommentare (2)

  1. #1 Karl-Heinz
    23. November 2019

    Echt cool. Mir ist bis jetzt noch gar nicht aufgefallen, dass es so was wie ein Lebesgue-Integral gibt. 🙂

    https://www.matheraum.de/read?t=29432&v=t

  2. […] quadratischer Formen Die Widerspruchsfreiheit der euklidischen Geometrie Das Runge-Kutta-Verfahren Lebesgues Satz über dominierte Konvergenz Fortsetzbarkeit von L-Funktionen Die Fredholm-Alternative Der Wohlordnungssatz Schurs Lemma Der […]