In der Klassenkörpertheorie geht es um die Klassifikation der abelschen Erweiterungen eines Zahlkörpers. Klassisches Vorbild ist der Satz von Kronecker-Weber, demzufolge die maximale abelsche Erweiterung von Q durch Adjunktion aller Einheitswurzeln entsteht. Hilbert bewies, dass die unverzweigten abelschen Erweiterungen eines Zahlkörpers den Untergruppen der Idealklassengruppe entsprechen. (Eine Körpererweiterung L/K heißt unverzweigt, wenn jedes Primideal aus K in der Erweiterung L in ein Produkt paarweise verschiedener Primideale zerfällt.) Er vermutete zu jedem Zahlkörper K die Existenz eines “Klassenkörpers” L, dessen Galois-Gruppe die enge Idealklassengruppe von K sein sollte, und der alle unverzweigten abelschen Erweiterungen von K enthält. Das wurde 1907 von Furtwängler bewiesen.
Takagi brachte 1920 die Klassenkörpertheorie zu einem Abschluß, indem er alle (verzweigten oder unverzweigten) abelschen Erweiterungen von Zahlkörpern K klassifizierte. (Eigentlich hatte er dies schon während des Krieges bearbeitet, erst 1920 wurde die Arbeit im Westen bekannt.) Für ein Ideal p in OK und (eventuell mehrere oder keine) Einbettungen von K in R bezeichnete er mit I die Gruppe der zu p teilerfremden gebrochenen Ideale und mit P die Untergruppe der gebrochenen Hauptideale (a/b), für die a,b teilerfremd zu p, a=b mod p und zusätzlich v(a/b)>0 für die Einbettungen in R gilt. (Die Gruppe I/P wird als Strahlklassengruppe bezeichnet, für p=(1) erhält man die Idealklassengruppe.) Jeder zwischen P und I liegenden Untergruppe H konnte er dann eine abelsche Erweiterung zuordnen und er bewies, dass jede abelsche Erweiterung auf diese Weise entsteht. (Für p=(1) und keine Einbettung erhält man Furtwänglers Resultat.)
Für die P zugeordnete Erweiterung L/K erhielt Takagi I/P=Gal(L/K), allerdings ohne einen expliziten Isomorphismus angeben zu können. Sein Beweis benutzte die 1917 von Hecke definierten L-Reihen , wobei
zu einem fest gewählten Ideal
die Gruppe der zu
teilerfremden gebrochenen Ideale bezeichnet und χ ein Charakter auf
ist. Für den Hauptcharakter
ist der Grenzwert
für eine Konstante c und die Anzahl der Charaktere h. Diese Eigenschaft war wesentlich für Takagis Beweis gewesen.
Für Spezialfälle war Takagis Isomorphismus bekannt und konnte explizit angegeben werden. Klassisches Beispiel ist Q(μm), die Erweiterung der rationalen Zahlen durch m-te Einheitswurzeln. Hier ist (Z/mZ)*, die Gruppe der m-ten Einheitswurzeln, isomorph zur Galois-Gruppe Gal(Q(μm)/Q). Durch diesen Isomorphismus wird eine zu m teilerfremde Zahl p auf Frobp abgebildet, den Körperautomorphismus, der “Potenzieren mit p” entspricht, also eine Einheitswurzel ζ auf ζp abbildet. Ein Charakter χ: (Z/mZ)*—->S1 kann also auch als 1-dimensionale Darstellung χ:Gal(Q(μm)/Q)—>GL(1,C) aufgefaßt werden und die L-Reihe dieses Charakters läßt sich schreiben als L(s,χ)=Π (1-χ(Frobp)p-s)-1. Das war das klassische Vorbild für Artins Konstruktion.
Artin gelang letztlich 1927 der Beweis seines Reziprozitätsgesetzes. Der Beweis beruhte zu einem großen Teil auf der Untersuchung der analytischen Invarianten wie Zeta-Funktionen oder L-Funktionen von algebraischen Zahlkörpern und er wurde erst durch den kurz zuvor bewiesenen Tschebotarjowschen Dichtigkeitssatz möglich. (Tschebotarjows 1922 gefundener Satz war eigentlich schon 1923 auf Russisch erschienen. Aber erst nachdem er 1925 an der DMV-Tagung in Danzig teilnahm und dann eine deutsche Übersetzung seiner Arbeit in Mathematische Annalen veröffentlichte, wurde der Satz auch im Westen bekannt.) Der Satz besagt, dass für eine Galois-Erweiterung L/K und eine Konjugationsklasse C in G=Gal(L/K) die Menge der unverzweigten Primideale p mit die Dichte #C/#G in der Menge aller Primideale hat. (Für abelsche Erweiterungen gibt das also die Dichte 1/#G.) Das war von Frobenius vermutet worden, im Fall der Kreisteilungskörper als Erweiterung von Q erhält man daraus den Satz von Dirichlet über die Dichte von Primzahlen in arithmetischen Folgen. Eine wichtige Konsequenz des Satzes von Tschebotarjow ist, dass Galois-Erweiterungen eindeutig bestimmt sind durch die in ihnen spaltenden Primideale.
Tschebotarjow soll 1927 ebenfalls schon an einer Anwendung seines Satzes auf den Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes gearbeitet haben, wobei ihm Artin aber zuvor kam. Nachdem die von Hilbert aufgestellten Vermutungen über abelsche Körpererweiterungen schon von Furtwängler und Takagi bewiesen worden waren, wurde Artins Reziprozitätsgesetz nun als Dach angesehen, welches das Gebäude endgültig vollendet. André Weil drückte es später so aus: Sie müssen mir glauben, dass es eine gerade Linie von der quadratischen Reziprozität zu Artins Reziprozitätsgesetz gibt. Die Erfinder der quadratischen Reziprozität würden diese Verbindungslinie nicht sofort sehen. In den Händen eines großen Künstlers (so Weil über Artin) seien zwei Themen so verschmolzen, dass nur eine sorgfältige Analyse sie separieren könne.
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