Je mehr ich über die Sprache nachdenke, desto sonderbarer kommt es mir vor, dass sich die Leute jemals verstehen.
Kurt Gödels Staatsbürgerschaftstest
“Nun, Mister Gödel, wo kommen Sie her?”
“Wo ich herkomme? Österreich.”
“Was für eine Regierung hatten sie in Österreich?”
“Es war eine Republik, doch die Verfassung war so, dass sie in eine Diktatur verwandelt wurde.”
“Oh, das ist schlecht. Das kann in diesem Land nicht passieren.”
“Aber ja. Ich kann es beweisen.”
“Oh Gott. Lassen wir uns da nicht ins Detail gehen.”
Dieses Gespräch führte Kurt Gödel 1947 bei seinem Einbürgerungstest. Zur Vorbereitung auf die Prüfung hatte er in den Monaten zuvor die Verfassung der USA gelesen. Dem Spieltheoretiker Oskar Morgenstern hatte er danach aufgeregt von inneren Widersprüchen in der Verfassung erzählt und dass es auf völlig legale Weise möglich sei, “ein Diktator zu werden und ein faschistisches Regime zu installieren”. Um Probleme beim Einbürgerungsgespräch zu vermeiden, begleiteten ihn deshalb Morgenstern und Albert Einstein, die als Bürgen – anders als sonst üblich – mit ihm gemeinsam befragt wurden.
Gödel im Theater
Die Geschichte von Gödels Einbürgerungsgespräch fand auch Eingang in Daniel Kehlmanns Theaterstück “Geister in Princeton”. (Das Stück war ursprünglich für die Salzburger Festspiele vorgesehen, nach Kehlmanns berühmter Rede wider das Regietheater hatte man dort aber kein Interesse mehr – ein Zusammenhang, der von der Salzburger Festspielleitung bestritten wurde – und das Stück wurde dann im Schauspielhaus Graz aufgeführt.)
Einer der Akte in Kehlmanns Stück ist ein Gespräch Einsteins mit Gödel am Morgen vor der Einbürgerungsprüfung. Die bevorstehende Prüfung ist dabei nur eines von vielen Themen, parallel wird in einer knappen Viertelstunde ein gefühltes Dutzend Fragen von Einsteins Ablehnung der Quantenphysik bis zu Gödels Verfolgungswahn abgearbeitet.
Das Stück insgesamt mag man durchaus als Einführung in Gödels Leben und Werk sehen. In lustigen und offensichtlich erfundenen Dialogen wird Gödels Denken (und beispielsweise auch das von Einstein, Schlick und Neurath) auch für den Laien auf den Punkt, manchmal auch den Effekt gebracht.
Sie haben mich dann eben doch nicht vergiftet, sondern mein Wissen, dass sie mich eines Tages vergiften würden, ausgenützt um mich ohne Gift zu erwischen. Hätte ich die Vergiftung nicht kommen sehen, so hätte ich nicht aus Furcht zu essen aufgehört und sie hätten mich tatsächlich vergiften können wie ich es ja auch vorhersah. Da ich jedoch wußte ich würde vergiftet werden, wurde ich nicht vergiftet, sondern vom Hunger getötet. Andererseits, und da liegt der Hund begraben, war ich eben nicht wirklich sicher. Wäre ich es gewesen, ich hätte ja essen können, denn dann hätte ich ja gewußt dass keine Vorsicht mich vor dem Gift hätte bewahren können. Sie konnten meine Gewißheit nur ausnutzen, weil ich eben doch nicht gewiss war. Und mit Recht war ich es nicht, mit Recht war ich nicht gewiss. Schließlich bin ich ja auch nicht an Gift gestorben. Also, wie man es dreht und wendet, es ist jedenfalls alles korrekt.
“Dem Wahnsinnigen hilft keine Logik und wäre er der schärfste Denker” legt Kehlmann dem chinesischen Assistenten – Hao Wang, in Wirklichkeit nicht Gödels Assistent, sondern ein Kommentator von Gödels philosophischem Werk – in den Mund.
Was war gemeint?
Die Geschichte von Gödels Einbürgerungsgespräch war lange eine in verschiedenen Varianten verbreitete Anekdote. Erst 2006 fand man in nachgelassenen Notizen Oskar Morgensterns ein 1971 aus dem Gedächtnis geschriebenes Protokoll, das den Ablauf des Gesprächs bestätigte.
Welche Widersprüche der Verfassung Gödel eigentlich entdeckt hatte, geht weder aus Morgensterns Notizen hervor noch ist es anderweitig überliefert.
Der US-amerikanische Jurist Enrique Guerra-Pujol hat versucht zu rekonstruieren, was Gödel gemeint haben könnte. (F. E. Guerra-Pujol: “Gödel’s Loophole”, Capital University Law Review, vol. 41 (2013), pp. 637-673.) Er konzentriert sich dabei auf den Artikel 5 der US-amerikanischen Verfassung, der ein kompliziertes Verfahren zur Verfassungsänderung festlegt.
Als wahrscheinlichste – weil am ehesten Gödels Denken entsprechende – Variante macht Guerra-Pujol die folgende aus:
i) die Verfassung enthält eine endliche Anzahl von gesetzlichen Bestimmungen oder “Verfassungserklärungen”; (ii) eine dieser Erklärungen enthält eine Änderungsbefugniserklärung, die Änderungen der Verfassung erlaubt, wenn bestimmte Bedingungen oder Verfahrensschritte erfüllt sind; (iii) die Änderungsbefugnis kann verwendet werden, um sich selbst zu ändern; und (iv) wenn sich die Änderungsklausel selbst ändern kann, können alle ausdrücklichen und impliziten Einschränkungen der Änderungsbefugnis durch eine Verfassungsänderung überwunden werden.
Guerra-Pujol identifiziert eine Reihe weiterer Fehler in der Verfassung, die aber seiner Meinung nach nicht das gewesen sein dürften, was Gödel meinte. Die Commerce Clause könnte eine Diktatur ermöglichen, denn jede politische Entscheidung betrifft den Handel. Ebenso könnte der Armee und Polizei unter alleiniges Kommando des Präsidenten stellende Artikel 2 eine Diktatur ermöglichen, oder das richterliche Prüfungsrecht, oder die Klausel, derzufolge der Kongreß neue (dem Präsidenten wohlgesonnene) Staaten aufnehmen könnte. Zur letzten Möglichkeit meint Guerra-Pujol: “this potential flaw is non-Gödelian because it is too complex and improbable to carry out from a practical perspective.”
Fehler im Weltgewebe
“Ich habe aufgedeckt, dass die Mathematik Inkonsistenzen enthält, dass das Weltgewebe fehlerhaft ist, und sie wollen behaupten, man hat keinen Grund, mich zu verfolgen” rechtfertigt – bei Kehlmann – Gödel im Gespräch mit Einstein seinen Verfolgungswahn.
Gödels Unvollständigkeitssatz – oft von raunenden Philosophen zitiert – wurde von Gödel selbst, soweit man weiß, nicht mit jener philosophischen Bedeutung aufgeladen, die ihm Kehlmann hier in den Mund legt. Er sah sich als Platoniker und den Unvollständigkeitssatz nicht als Nachweis eines Fehlers im Weltgewebe, sondern nur der Unmöglichkeit, die gesamte Mathematik zu einem formalen Gebilde ohne Bezug zur “realen Welt” zu machen.
Seine – heute jedem Mathematiker vertraute – Argumentation benutzt eine Abzählung aller Sätze eines formalen Systems, jedem Satz wird seine Gödelnummer zugeordnet. Er konstruiert eine Formel der Form “Der Satz mit der Nummer ist nicht ableitbar” und zeigt mit Hilfe einer Diagonalisierung, dass es eine Einsetzung
für
gibt, sodass der Satz mit der Nummer
äquivalent zur Aussage “Der Satz mit der Nummer
ist nicht ableitbar” ist. Damit erhält er einen Satz mit der intuitiven Bedeutung “Ich bin nicht ableitbar”. Klassisches Lügnerparadox, nichts philosophisches.
Sehr zu empfehlen für Leser, die sich – mit ein wenig Interesse an Mathematik, aber ohne gleich sämtliche technische Details des Beweises verstehen zu wollen – über den Inhalt und die Konsequenzen des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes informieren möchte, ist übrigens das im Spektrum-Verlag erschienene Buch von Dirk W. Hoffmann: “Grenzen der Mathematik”.
Douglas Hofstadter erklärt es in “Gödel, Escher, Bach” so:
Herr Schildkröte sagt, dass kein hinreichend mächtiger Plattenspieler in dem Sinn vollkommen sein kann, dass er jeden möglichen Ton auf einer Platte wiedergeben kann. Gödel sagt, dass kein hinreichend mächtiges formales System in dem Sinn vollkommen sein kann, dass es jede einzelne wahre Aussage als einen SATZ widergeben kann. Wie Herr Schildkröte aber im Hinblick auf Grammophone betont, kommt einem das nur dann als Mangel vor, wenn man unrealistische Erwartungen darüber hegt, was formale Systeme leisten sollten.
Topologie hilft beim Gerrymandering
In den USA wird seit einigen Jahren wieder verstärkt über “Gerrymandering” diskutiert, also das Verschieben von Wahlkreisgrenzen, um (unter den Bedingungen des amerikanischen Mehrheitswahlrechts) die voraussichtlichen Ergebnisse einer Partei zu optimieren. Nachdem Barack Obama 2017 das Thema auf seine Agenda setzte, haben sich auch zahlreiche Mathematiker mit dieser Frage befaßt.
Meist geht es dabei natürlich um reale Wahlkreise und ihren Zuschnitt. Aber auch für die theoretische Mathematik lassen sich aus dem Thema Probleme gewinnen. Zum Beispiel: kann man (bei vorab korrekt geschätztem Stimmverhalten) zumindest theoretisch eine maximal ungerechte Verteilung der Wahlkreise finden, die also der stärkeren Partei 100 Prozent der Wahlmänner oder der Sitze in Kongreß und Repräsentantenhaus sichert?
Die Notices of the AMS hatten dazu im Oktober 2017 einen Artikel “Gerrymandering, sandwiches and topology” von Pablo Soberón.
Mathematischer Hintergrund ist die (im Englischen als Pancake Theorem bezeichnete) 2-dimensionale Version des 1938 von Stefan Banach bewiesenen Ham-Sandwich-Theorems: wie kann man mit einem Schnitt ein Schinkenbrot so zerschneiden, dass Brot und Schinken jeweils in gleiche Teile zerlegt werden?
Mathematisch: kann man zwei Teilmengen (endlichen Flächeninhalts) in der Ebene durch eine Gerade so zerschneiden, dass beide Mengen in Teile gleichen Flächeninhalts zerlegt werden? (Beim Gerrymandering geht es eigentlich um Anzahlen von Punkten in diskreten Mengen, doch kann man diese als Flächeninhalte in der Ebene interpretieren, etwa indem man um jeden Punkt einen kleinen Kreis legt.)
Eine so gleichmäßige Zerlegung der beiden Mengen ist notabene keine besonders gerechte Aufteilung der Wahlkreise. Ganz im Gegenteil wird die Partei mit 51 Prozent der Wähler jetzt beide Wahlkreise gewinnen statt nur einem – klassisches Gerrymandering.
Der Beweis dieses Satzes ist ein besonders schönes Beispiel für eine topologische, Stetigkeit verwendende Argumentation.
Beweis des “Pancake Theorem”:
Zunächst bemerken wir, dass es zu jeder Richtung eine senkrecht auf dieser Richtung stehende Gerade gibt, die die erste Menge genau halbiert, wenn auch nicht unbedingt die zweite. Man starte einfach mit einer senkrechten Gerade und verschiebe sie solange bis die erste Menge genau halbiert wird. Die zweite Menge wird von dieser Geraden im Allgemeinen nicht halbiert, sondern in Teile mit Flächeninhalt und
zerlegt.
‘Richtungen’ entsprechen Punkten auf dem Einheitskreis . Wir können also eine Funktion
definieren, die jeder Richtung nach obiger Konstruktion die Differenz
aus den Flächeninhalten der Zerlegung der zweiten Menge zuordnet.
Wenn wir auf dem Kreis laufen lassen, ändert sich
stetig mit
, und wenn wir in
ankommen, dann ist
. Damit haben
und
entgegengesetztes Vorzeichen und nach dem Zwischenwertsatz muss es einen Wert von
mit
geben. (In höheren Dimensionen hat man keinen Zwischenwertsatz, kann den Beweis aber mit dem Satz von Borsuk-Ulam führen.) Für diesen zerlegt die im ersten Schritt konstruierte Gerade also auch die zweite Menge in zwei gleiche Teile.
Mit diesem Verfahren zerlegt man also das Land in zwei Wahlkreise, die beide von derselben Partei gewonnen werden. Diese beiden Wahlkreise zerlegt man wieder auf dieselbe Weise und bekommt dann vier, im nächsten Schritt acht, usw., Wahlkreise, die alle von derselben Partei gewonnen werden und die alle gleich groß sind.
Etwas schwieriger ist es für Zahlen, die keine Zweierpotenzen sind, eine Aufteilung in diese Anzahl von Wahlkreisen zu finden, die alle gleich groß sind und wo beide Parteien jeweils dieselben Prozentzahlen erreichen. Dieses Problem wurde in einer Arbeit von S. Bespamyatnikh, D. Kirkpatrick und J. Snoeyink (Discr. Comput. Geom. 24, 605-622) gelöst.
Kompaktheitsmaße
Obwohl der Supreme Court schon 1986 die Praxis des “gerrymandering” als nicht verfassungsgemäß verurteilte, hat er sich bisher stets geweigert, konkrete Zuschnitte zu verhindern. 2004 entschied der Supreme Court unter Richter Scalia sogar, dass solche Klagen nicht justiziabel seien, weil es keinen handhabbaren Standard gäbe um das „gerrymandering“ von Wahlkreisen festzustellen. Das Gericht schloß aber nicht aus, dass es solche Standards in Zukunft geben könne, mit denen sich also messen ließe, ob ein Wahlkreis unnatürliche Grenzen hat.
Experten sprechen hier von Kompaktheitsmaßen und betonen, dass es keine mathematische Definition von Kompaktheit gäbe. (Mit dem mathematischen Begriff von Kompaktheit hat das offensichtlich nichts zu tun.)
Die Juristen Daniel Polspy und Robert Popper schlugen 1991 in einer Arbeit “The Third Criterion: Compactness as a procedural safeguard against partisan gerrymandering” das Kompaktheitsmaß vor, wobei A den Flächeninhalt und C den Umfang des Gebietes D bezeichnet. Mathematiker erkennen hier natürlich die isoperimetrische Ungleichung, derzufolge
ist und Gleichheit nur für den Kreis gilt. Eine Kommission in Arizona griff diesen Test auf, der Supreme Court in seiner Entscheidung von 2004 wollte ihn aber nicht gelten lassen.
Stephanopoulos und McGee – ein Jurist und ein Politikwissenschaftler von der Universität Chicago – schlugen 2014 eine Effizienzlücke (“efficiency gap”) vor, welche die Anzahl der verschwendeten Stimmen zählt: Stimmen entweder für einen unterlegenen Kandidaten oder für einen klaren Sieger, der die Stimmen nicht gebraucht hätte. Das wird oft als das beste Maß für die Ungerechtigkeit von Wahlkreisen angesehen.
Die Autoren sahen eine Effizienzlücke von mehr als 7 Prozent als kritisch an. Nachdem auch einige Gerichte dieser Ansicht folgten, schrieben Boris Alexeev und Dustin Mixon – diesmal zwei Mathematiker – eine Arbeit “An impossibility theorem for gerrymandering” um zu beweisen, dass man mit bizarren Formen trotzdem eine geringe Effizienzlücke erhalten kann:
In 2018, the U.S. Supreme Court considered a proposed mathematical formula to help detect unconstitutional partisan gerrymandering. We show that in some cases, this formula only flags bizarrely-shaped districts as potentially constitutional.
Das ist nicht besonders überraschend und zeigt eigentlich nur, dass die Effizienzlücke ein besseres Maß ist als das mit der isoperimetrischen Ungleichung erhaltene: es gibt ja, wie in der Arbeit bewiesen, ungerechte Wahlkreiszuschnitte, die von der Geometrie nicht erkannt werden.
Wenn man schon mathematisch die Unmöglichkeit einer gerechten Wahl beweisen will, kann man sich auch gleich auf Kenneth Arrow berufen. Der hat in seinem Buch “Social Choice and Individual Values” eine einfache Axiomatik demokratischer Prozesse aufgestellt: er postuliert zwei Axiome, wie Menschen Entscheidungen treffen, und fünf Anforderungen an eine “gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion”, die zu maximieren das Ziel demokratischer Prozesse sein soll. Und er beweist dann, daß es unmöglich ist, einen allgemeinen Mechanismus der Entscheidungsfindung anzugeben, der seinen (sehr natürlichen) Anforderungen genügt. Das und auch verschiedene Ansätze, Entscheidungsmechanismen für etwas schwächere Axiomensysteme zu finden, wird in Kapitel 11 (“Die Pessimisten”) von George Szpiros Buch Die verflixte Mathematik der Demokratie diskutiert.
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