Das Beispiel ist insofern typisch, als es oft gerade die scheinbar komplizierten Eigenschaften sind, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben. Zum Beispiel interessiert man sich in der theoretischen Informatik für sogenannte Expander-Graphen, das sind Graphen, die sich nicht durch Entfernen weniger Kanten in zwei annähernd gleich große Komponenten zerlegen lassen. Wenn man einfach zufällig einen Graphen zeichnet, ist dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Expander – das wurde 1967 von Kolmogorow-Barzdin bewiesen und zeigt insbesondere, daß es Expander-Graphen gibt. Ein konkretes Beispiel fand aber erst 1973 Margulis. Die Konstruktion expliziter Serien von Graphen immer besserer Expansivität erfordert schwere Mathematik, zum Beispiel Selbergs Abschätzungen der Eigenwerte des Laplace-Operators hyperbolischer Flächen zum Beweis der Expansivität für die Cayley-Graphen von , oder die Ramanujan-Vermutung für Modulformen zum Beweis der Expansivität gewisser Quotienten des p-adischen symmetrischen Raums
durch Lubotzky-Philips-Sarnak.
Das Bild zeigt einen Teil eines Expandergraphen aus Lubetzky-Peres, GAFA 26, 1190-1216.
So wie Expandergraphen sind auch hyperbolische Mannigfaltigkeiten oder allgemeiner negativ gekrümmte Simplizialkomplexe schwer zu konstruieren, während andererseits “zufällige” Simplizialkomplexe (aus euklidischen Simplizes) negativ gekrümmt sein sollten. Auch endlich erzeugte Gruppen sind mit Wahrscheinlichkeit 1 negativ gekrümmt, was allerdings von der Wahl des Wahrscheinlichkeitsmodells abhängt. Für eine Zahl d zwischen 0 und 1 nimmt man alle Gruppen mit n Erzeugern und höchstens dL Relationen der Länge höchstens $L$. Eine Eigenschaft P heißt (für das gewählte d) “mit überwältigender Wahrscheinlichkeit” zutreffend, wenn für jedes n gilt: für geht der Anteil der Gruppen mit der Eigenschaft P gegen 100 Prozent. Gromov zeigte, dass man für
mit überwältigender Wahrscheinlichkeit die triviale Gruppe oder die Gruppe mit 2 Elementen bekommt, während man für kleinere d mit überwältigender Wahrscheinlichkeit eine hyperbolische Gruppe bekommt. Man kann dann sogar noch mehr beweisen: man hat mit überwältigender Wahrscheinlichkeit kohomologische Dimension 2, nach Bestvina-Mess also einen 1-dimensionalen Rand im Unendlichen, der dann nach Kapovich-Kleiner entweder ein Kreis oder ein Sierpinski-Teppich oder ein Menger-Schwamm sein muß, und tatsächlich hat man (bewiesen 2011 von Dahmani-Guirardel-Przytycki) mit überwältigender Wahrscheinlichkeit den Menger-Schwamm als Rand im Unendlichen. Vielleicht nicht unbedingt, was man als eine “Eigenschaft mit überwältigender Wahrscheinlichkeit” für endlich erzeugte Gruppen erwartet hätte.
Das Bild zeigt den Menger-Schwamm – mit überwältigender Wahrscheinlichkeit der Rand im Unendlichen einer zufälligen endlich erzeugten Gruppe.
Wiederkehrwahrscheinlichkeiten
Um die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Ereignisse geht es auch in der im August 2021 veröffentlichten 39-Autoren-Arbeit Rapid attribution of heavy rainfall events leading to the severe flooding in Western Europe during July 2021. Kurz nach dem Juli-Hochwasser verwandten die Autoren dort regionale Klimamodelle (RACMO, EURO-CODEX), Klimasimulationen durch fünf konvektionserlaubende Modelle und statistische Methoden gemäß dem auf Philip et al. zurückgehenden “protocol for probabilistic extreme event attribution analyses”, um für zwei im Juli 2021 besonders betroffene Regionen (und auch für zahlreiche andere Teile Mitteleuropas) das April-bis-September-Maximum der über einen oder zwei Tage gemittelten Niederschlagsmenge zu analysieren. Damit berechnen sie die Wiederkehrperioden, Wahrscheinlichkeitsverhältnisse und Intensitätsveränderungen als Funktionen der durchschnittlichen globalen Oberflächentemperatur der Erde.
Für die Vergangenheit erhalten sie aus der Analyse der beobachteten Daten eine Wiederkehrperiode bei Überflutungen dieser Grössenordnung von 700 Jahren für die Ahr-und-Erft-Region und von 1000 Jahren für die betroffene Region in Belgien. Mit Hilfe der Klimamodelle wird dann (unter der Annahme einer um 2 Grad höheren Durchschnittstemperatur) für die Ahr-Erft-Region eine Zunahme der über einen Extremwetter-Tag gemittelten Niederschlagsintensität um 1,5 bis 4 Prozent berechnet. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Extremniederschlags wie im Juli 2021 steigt nach den Berechnungen für die Ahr-Erft-Region um einen Faktor von 1,2.
Fazit im SPIEGEL
Natürlich hängen solche Berechnungen von vielen Annahmen ab.
Über die Realität extrem unwahrscheinlicher Ereignisse kann man vieles schreiben. Ein Atomunfall wie im japanischen Fukushima war offenkundig nicht so unwahrscheinlich, dass er nie passieren könnte. Borel selbst – demzufolge “Ereignisse mit einer hinreichend geringen Wahrscheinlichkeit niemals vorkommen” sollen – hatte ja bewiesen, dass die Ziffern einer Zahl mit Wahrscheinlichkeit 1 gleichverteilt sind, und ihm war natürlich bekannt, dass Zahlen mit nicht gleichverteilten Ziffern in der Mathematik von großer Bedeutung sind – darunter fallen alle ganzen und alle rationalen Zahlen. Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen eines Impfschadens zu sterben, ist jedenfalls groß genug, dass dieser Fall bei 82 oder auch nur 62 Millionen Impfungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einige Mal vorkommen wird (und ja inzwischen auch vorgekommen ist). Sie ist freilich viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, ungeimpft an den Folgen von Covid-19 zu sterben. Ulrich Fichtner im SPIEGEL fasst es so zusammen:
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