1+2+3+4+5+…=-1/12
Im Januar 2014 wies mich ein Leser meines Blogs per e-Mail auf einen Artikel im Blog “Bad Astronomy” hin, der wiederum Bezug nahm auf ein einige Wochen zuvor bei Numberphile erschienenes Video “1+2+3+4+5+…=-1/12”. Die Gleichung im Titel war dem bekannten Lehrbuch “String Theory” von Joseph Polchinski entnommen.
Bewiesen wurde sie im Video mittels geschickter Indexverschiebungen in unendlichen Reihen. Der Mathematiker erkennt natürlich sofort den Fehler im Beweis: es ist das Herumrechnen mit divergenten Reihen, mit dem man, wenn man sich (un)geschickt anstellt, praktisch jeden Unsinn beweisen kann – was im Video leider zu erklären versäumt wurde. Zum Beispiel kann man eine konvergente, aber nicht absolut konvergente, Reihe wie durch passende Umordnung der Summanden jeden reellen Wert annehmen lassen.
Nun haben im 18. Jahrhundert Mathematiker durchaus solche Rechnungen benutzt, um damit völlig richtige Ergebnisse zu erhalten. Leonhard Euler galt als Meister im Rechnen mit divergenten Reihen, der offenbar immer genau wußte, welche Rechnungen zu korrekten Ergebnissen führen und welche nicht. Tatsächlich gibt es einen von Euler verfaßten Artikel “De seriebus divergentibus”, in dem er die Argumente der Gegner und Befürworter divergenter Reihen erörtert und aber klar die Partei der Befürworter ergreift.
So real diese Uneinigkeit aber auch erscheinen mag, kann dennoch keine Partei von der anderen eines Fehlers überführt werden, sooft in der Analysis der Gebrauch von Reihen dieser Art auftaucht; es muss von großer Bedeutung sein, dass keine Partei falsch liegt, sondern die Uneinigkeit in den Werten allein gelegen ist. Wenn ich nämlich bei einer Rechnung zu dieser Reihe 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 + etc gelange und an ihrer Stelle 1/2 einsetze, wird gewiss niemand mir mit Recht einen Fehler anlasten, der dennoch jedem sofort ins Auge spränge, wenn ich irgendeine andere Zahl an deren Stelle gesetzt hätte; daher kann kein Zweifel bestehen bleiben, dass die Reihe 1 − 1 + 1 − 1 + 1 − 1 + etc und der Bruch 1/2 äquivalente Größen sind, und sich die eine anstelle der anderen immer ohne einen Fehler einsetzen lässt.
Die ganze Frage scheint also nur darauf zurückzugehen, ob wir den Bruch 1/2 richtigerweise die Summe der Reihe 1 − 1 + 1 − 1 + etc nennen; die das hartnäckig verneinen, obwohl sie dennoch nicht wagen die Äquivalenz zu verneinen, sind dafür vehement zu verachten, nicht die Logik zu beachten.
Heutigen Mathematikern muss man wohl erst erklären, dass 1/2 der Wert der geometrischen Reihe für q=-1 ist.
Anfang des 19. Jahrhunderts begann man solche Beweise in Zweifel zu ziehen, exemplifiziert am Zitat von Niels Henrik Abel
Die divergenten Reihen sind eine Erfindung des Teufels, und es ist eine Schande, irgendeinen Beweis auf sie zu stützen. Indem man sie verwendet, kann man jede beliebige Schlussfolgerung ziehen, und deshalb haben diese Reihen so viele Trugschlüsse und so viele Paradoxien hervorgebracht.
Seit den 1820er Jahren wurde dann das Rechnen mit unendlichen Reihen auf eine klar definierte mathematische Grundlage gestellt, wie man sie heute im Analysis-Grundkurs lernt, und die Mathematiker verlernten das Rechnen mit divergenten Reihen (mit Ausnahme Ramanujans.)
Auch wenn man durch geschicktes Umordnen divergenter Reihen praktisch jede mathematische Identität beweisen kann, spielt die “Identität” trotzdem eine besondere Rolle. Das Schlagwort heißt “Riemannsche Zeta-Funktion”. (Es ist unter Historikern umstritten, ob die Rechnung auch schon Euler bekannt war.)
Wenn s eine komplexe Zahl mit Realteil ist, dann konvergiert die unendliche Reihe
,
zum Beispiel ist
Man kann zeigen, dass diese Funktion im Bereich komplex differenzierbar ist.
Es ist ein allgemeines Prinzip, dass man eine auf einer offenen Teilmenge der Ebene definierte komplex-differenzierbare Funktion (unter gewissen Voraussetzungen) “analytisch fortsetzen” kann, so dass man eine auf der ganzen Ebene (mit Ausnahme einzelner isolierter Singularitäten) definierte komplex-differenzierbare Funktion erhält. Im Fall von definiert diese analytische Fortsetzung die sogenannte Riemannsche Zeta-Funktion, für die sich Riemann seinerzeit wegen ihrer Anwendungen auf die Primzahlverteilung interessiert hatte. (Der Primzahlsatz ist äquivalent zu der später von Hadamard und de la Vallée Poussin bewiesenen Tatsache, dass es Nullstellen nur im Bereich
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geben kann. Die bestmögliche Fehlerabschätzung im Primzahlsatz würde aus der Riemann-Vermutung folgen, derzufolge es nichttriviale Nullstellen nur auf der Geraden geben soll.)
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