Gestern ist Sergei Nowikow gestorben, über lange Jahre einer der führenden Mathematiker der ehemaligen Sowjetunion, bekannt vor allem für die Entwicklung der Chirurgietheorie. (Trotz des Namens ein Teilgebiet der algebraischen Topologie ohne Anwendungen in der Medizin.)

Während sonst in der Topologie während der Phase ihrer stürmischen Entwicklung Kollaborationen die Regel gewesen waren, wurde die Chirurgietheorie von einzelnen Akteuren entwickelt, die sich später über die Prioritäten uneinig waren. Nowikow entwickelte unter anderem die für die Chirurgietheorie von Mannigfaltigkeiten mit nichttrivialen Fundamentalgruppen benötigte L-Theorie von Gruppenringen, nachdem er zuvor mittels Chirurgietheorie die topologische Invarianz der Pontrjagin-Klassen bewiesen hatte, ein damals sehr überraschendes Resultat.

Die geometrische Grundlage der Theorie waren die Arbeiten Milnors, in denen analog zu Smales Henkelzerlegungen von Mannigfaltigkeiten bewiesen wurde, dass jeder Kobordismus zwischen Mannigfaltigkeiten sich durch eine endliche Folge von Chirurgien realisieren lässt.
Solche Chirurgien waren ein wichtiges Hilfsmittel in der Klassifikation exotischer Sphären durch Kervaire und Milnor und in Milnors Arbeiten zur Klassifikation (k-1)-zusammenhängender 2k-Mannigfaltigkeiten gewesen.

Nowikow und Browder hatten zunächst unabhängig voneinander die Methoden der Chirurgie auf Mannigfaltigkeiten mit komplizierterer Homologie angewandt. Damit bekamen sie beispielsweise, dass für einfach zusammenhängende Mannigfaltigkeiten nur der höchste Anteil der L-Klasse eine Homotopieinvariante ist, also ein Konverses zum Signatursatz. Browders damaliger Student Dennis Sullivan kombinierte in seiner Dissertation beider Arbeiten, um für die Strukturmenge S(M), also die Menge der Diffeomorphismustypen homotopieäquivalent zu einer gegebenen Mannigfaltigkeit M, im einfach zusammenhängenden 4k-dimensionalen Fall (k>1) die Chirurgiesequenz 0—>S(M)—>[M,G/O]—>Z zu beweisen. Hier ist G/O die Homotopiefaser der Abbildung  von BO nach BG. Für die Verallgemeinerung auf den nicht einfach zusammenhängenden Fall mußte man die Algebra der L-Gruppe der Fundamentalgruppe entwickeln, was Nowikow und Wall unabhängig voneinander gelang, im Ergebnis bewiesen sie die Sequenz L_{n+1}\left({\bf Z}\left[\pi_1M\right]\right)\to S(M)\to \left[M,G/O\right]\to L_n\left({\bf Z}\left[\pi_1M\right]\right) .

Nowikow beschrieb später in einem Interview, dass in den 50er Jahren, als er mit der Mathematik begann, in Moskau Mengenlehre, Logik, Funktionalanalysis und die Theorie partieller Differentialgleichungen als die wichtigen Gebiete galten und wie in Frankreich Axiomatisierung das oberste Ziel aller Mathematik war. In der Topologie habe es nur noch die Überreste von Pontrjagins Schule gegeben, der sich aber inzwischen mit Kontrolltheorie befaßte. Seine erste Arbeit habe er mit 21 geschrieben, was für damalige Verhältnisse in Moskau nicht jung war. Andere hätten ihre ersten Arbeiten mit 18 oder 19 geschrieben, Wladimir Arnold sei in diesem Alter schon berühmt gewesen. Seine Mutter habe sich bereits beschwert, dass die Kinder aller ihrer Bekannten wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichten, nur ihr Sohn nicht.
Tatsächlich kam Nowikow aus einer in der Moskauer Wissenschaft sehr etablierten Familie. Sein Vater P.S.Nowikow hatte die Unlösbarkeit des Wortproblems für endlich präsentierte Gruppen bewiesen, seine Mutter hatte als Schülerin Lusins über deskriptikve Mengenlehre gearbeitet und befaßte sich später mit geometrischer Topologie, am bekanntesten und einflußreichsten war der Bruder seiner Mutter, Mstiskaw Keldysh, der das speziell zur Bewältigung der von ihm geleiteten umfangreichen numerischen Rechnungen zur Atombombenentwicklung gegründete Akademie-Institut für Angewandte Mathematik geleitet hatte und, nachdem er in einem Brief mit zwei Kollegen der Staatsführung den Start eines Satellitenprogramms empfohlen hatte, Vorsitzender des dafür gegründeten Komitees geworden war. Der gelungene Start des ersten künstlichen Erdsatelliten 1957 war für den Westen ein Schock, nicht nur weil die Sowjetunion den Westen technologisch überholt zu haben schien, sondern auch weil die Sowjetunion nun in der Lage war, das Gebiet der USA mit nuklear bestückten Interkontinentalraketen zu erreichen. Nowikows Onkel verdankte diesem Ereignis eine enorme Popularität und die Wahl zum Vorsitzenden der Akademie der Wissenschaften.

Nowikow bewies in den 60er Jahren die ersten quantitativen Resultate über Blätterungen, insbesondere dass jede Blätterung der 3-Sphäre ein geschlossenes Blatt hat, einen Torus. Die sogenannten Reeb-Blätterungen lassen sich also auf der 3-Sphäre grundsätzlich nicht vermeiden.

Die von Nowikow und Browder unabhängig entwickelten Methoden der Chirurgietheorie benutzte Nowikow dann für den Beweis eines spektakulären Satzes über charakteristische Klassen: Pontrjagin-Klassen sind nicht nur – nach Definition – Invarianten einer Differentialstruktur, sondern auch topologische Invarianten der zugrundeliegenden Mannigfaltigkeiten. (Sie sind jedoch keine Homotopieinvarianten wie die Stiefel-Whitney-Klassen, die sich über die sich über Kohomologieoperationen berechnen lassen und damit automatisch Homotopieinvarianten sind.) Vor allem für diesen Bewies erhielt er 1970 die Fields-Medaille. Selbst entgegennehmen durfte er die Auszeichnung aber nicht. Weil er Unterstützerbriefe für Dissidenten geschrieben hatte, ließ man ihn nicht ins Ausland reisen.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (2)

  1. #1 rolak
    8. Juni 2024

    ArtikelBonus: noch nie von gehört 😉

  2. #2 Bernd Nowotnick
    10. Juni 2024

    Zu „Nowikow bewies in den 60er Jahren die ersten quantitativen Resultate über Blätterungen, insbesondere dass jede Blätterung der 3-Sphäre ein geschlossenes Blatt hat, einen Torus.“
    Ein Beispiel für eine Blätterung der 4-Sphäre ist meiner Meinung nach die Raumzeit als geschlossenes Blatt gegenüber einem Beobachter im Universum:
    Für ein System wie beispielsweise die Raumzeit im Multiversum, wenn es mit keinem weitern System verschränkt ist, vergeht keine Zeit, da es unverändert bleibt. Entscheidend in der Raumzeit sind relative Veränderungen bei Informationen von Beobachtern zueinander, wenn sie miteinander verschränkt sind. Zu Beispiel sind Zeitkristalle Materialien und Systeme, die eine regelmäßige Zustandsveränderung in der Zeit zeigen. Sie ticken also indem beispielsweise die Spins ihrer Atome in einem festen Takt umklappen. Ein typisches Beispiel ist die Kopplung einer kollektiven mechanischen Gitter-Schwingung, also Phonon mit Frequenzen im optischen Bereich und transversaler Polarisation eines Festkörpers an eine elektromagnetische Welle als Photon. Es sind Polaritonen in ionischen Kristallen in Wechselwirkung mit Photonen, wobei Exzitonen Teilchen-Loch-Anregungen in Halbleitern oder Isolatoren sind, die ebenfalls in Wechselwirkung mit Photonen Polaritonen bilden, wobei auch die Änderung von Zuständen der Magnete Informationsträger darstellen und so die Raumzeit stabil halten.