“Wenn wir 33 Millionen Atomkraftwerke hätten, würde nur eines havarieren.”
Wie man hört, wurden Atomkraftwerke in Japan auf eine Erdbebenstärke von 7,5, in besonders gefährdeten Regionen sogar von 8,2 ausgelegt.
Die Stärke von Erdbeben wird seit gut 100 Jahren gemessen, in diesem Zeitraum hatte das weltweit stärkste Erdbeben (Chile 1960) eine Stärke von 9,5.
In und bei Japan gab es 1923 ein Beben der Stärke 7,9, 1933 ein Beben der Stärke 8,4 (mit 29 m hohem Tsunami), 1944 eines der Stärke 8,1, 1946 ebenfalls 8,1, das Kobe-Erdbeben 1995 war mit 6,9 vergleichsweise schwach.
Auch in früheren Jahrhunderten gab es immer wieder Beben, von denen man vermutet, daß sie stärker als 8,0 waren: 1703 wird auf 8,0 geschätzt, 1707 (mit 40000 Toten) auf 8,4, 1891 und 1896 (mit 23 m hohem Tsunami) jeweils auf 8,0.
Ganz naiv sollte man meinen, daß eine Erdbeben-Stärke höher als 8,2 für Japan nicht besonders unwahrscheinlich ist.
In den vergangenen Tagen geistert die Zahl 1 : 33 Millionen durch die Nachrichten, als Wahrscheinlichkeit für einen Atomunfall. Für den Mathematiker stellen sich da natürlich sofort zwei Fragen:
– ist diese Wahrscheinlichkeit gering genug, daß man Atomkraftwerke als sicher ansehen kann?
– und wie ist diese Wahrscheinlichkeit überhaupt definiert, was wurde hier berechnet?
Ab wann ist eine Wahrscheinlichkeit so gering, daß man mit dem entsprechenden Ereignis nicht mehr rechnen muß? Irgendwann vor 20 Jahren habe ich mal in der Schülerzeitschrift “Die Wurzel” einen Artikel zu dem Thema gelesen, von einem russischen Professor, der tatsächlich einen genauen Zahlenwert hierfür angab. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die Anzahl der Atome im Universum (1078) oder die Anzahl der Sekunden eines Menschenlebens (weniger als 1010) war, deren Reziprokes er als Wahrscheinlichkeit postulierte, unterhalb derer ein Ereignis als praktisch unmöglich angesehen werden könne. Natürlich sind solche Festlegungen völlige Willkür, aber, ja, auf irgendeinen Wahrscheinlichkeitswert für die Unmöglichkeit eines Ereignisses wird man sich wohl einigen müssen, vielleicht per Volksabstimmung?
Was bedeutet: die Wahrscheinlichkeit eines Atomunfalls beträgt 1 : 33 Millionen?
Wahrscheinlichkeit kennt man in der Naturwissenschaft zunächst nur auf atomarer Ebene: man kann nicht vorherberechnen, wann ein Radiumatom zerfällt – man kennt aber Erfahrungswerte, aus denen man die Wahrscheinlichkeit berechnen kann, daß es bis zum Zeitpunkt t zerfallen ist: P(t)=1-e-0,000436 t.
Hingegen wissen wir seit Newton, daß makroskopische Vorgänge wie das Rollen von Lottokugeln dank Impulserhaltung streng deterministisch sind. Wahrscheinlichkeiten hier gehen von Erfahrungswerten und idealisierten Annahmen aus, strenggenommen reine Willkür:
Die Aufgabe, den realen Inhalt des Begriffes der “mathematischen Wahrscheinlichkeit” von philosophischer Seite aufzuklären, kann man daher von vornherein als hoffnungslos ansehen
heißt es im Lehrbuch von Gnedenko in Paragraph 1.1. Anders gesagt: ein Zahlenwert einer mathematischen Wahrscheinlichkeit macht nur dann Sinn, wenn man weiß, unter welchen Annahmen er berechnet wurde.
Bei Wahrscheinlichkeitsberechnungen, wie man sie in der Schule lernt, ist das natürlich recht banal: es gibt Y mögliche Ergebnisse beim 6 aus 49, davon sind X Erfolge (mehr als zwei Richtige), wenn man jetzt annimmt, daß die Lottokugeln nicht deterministisch rollen, sondern alle Ergebnisse die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, kann man die Erfolgswahrscheinlichkeit berechnen, als hypergeometrische Verteilung.
Wenn man ein Ereignis oft genug wiederholt, wird sich die relative Anzahl des Eintreffens eines bestimmten Ergebnisses der Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses annähern. (Wenn nicht, dann sind wir von der falschen Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgegangen. Wenn doch, dann kann man sogar die Wahrscheinlichkeit berechnen, daß ab einer bestimmten Zahl von Ereignissen die angenommene Wahrscheinlichkeit mit einer bestimmten Genauigkeit erreicht wird.) In jedem Fall bekommt man nur eine Aussage über eine große Zahl von Ereignissen, wie es Max Frisch in “Homo Faber” auf den Punkt bringt:
Die Mortalität bei Schlangenbiß (Kreuzotter, Vipern aller Art) beträgt drei bis zehn Prozent, sogar bei Biß von Kobra nicht über fünfundzwanzig Prozent, was in keinem Verhältnis steht zu der abergläubischen Angst vor Schlangen, die man allgemein noch hat.
[…]
“Wenn ich hundert Töchter hätte, alle von einer Viper gebissen, dann ja! Dann würde ich nur drei bis zehn Töchter verlieren. Erstaunlich wenig!”
(Die Tochter stirbt dann nicht am Schlangenbiss, sondern an einer nichtdiagnostizierten Fraktur der Schädelbasis, die durch chirurgischen Eingriff ohne weiteres hätte behoben werden können.)
Nun paßt dieses Zitat hier nur bedingt, denn bei solchen Mortalitätsraten geht es ja tatsächlich nicht um berechnete Wahrscheinlichkeiten, sondern schlicht um statistische Erhebungen: X Menschen wurden im vergangenen Jahr von Schlangen gebissen, Y sind gestorben.
Dagegen handelt es sich bei Wahrscheinlichkeiten extrem unwahrscheinlicher Ereignisse offensichtlich nicht um Erfahrungswerte. Sondern, ja, um was eigentlich?
Wer von einer Wahrscheinlichkeit 1 : 33 Millionen spricht, sollte schon dazusagen, um welche 33 Millionen Ereignisse es sich handelt, von denen nur eines zum Mißerfolg führt. Sonst kann man mit der Zahl nichts anfangen.
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