In einer der für unser Feld der forensischen Wissenschaften relevanten Fachzeitschriften, “Science and Justice“, ist kürzlich ein Artikel zur Veröffentlichung angenommen worden, der eigentlich besser abgelehnt worden wäre, da er einen nahezu unverhohlenen Versuch macht, woke, postmodernistische, anti-westliche Ideologie (zum Hintergrund s. hier) in die universitäre Lehre forensischer Wissenschaften einzuführen. Das Ding heißt “Approaches to decolonising forensic curricula” (Anm.: im Artikel wird öfters die Abkürzung “DtC” für “decolonzing the curriculum” verwendet) und da es open access ist, kann sich jeder Leser selbst ein Bild machen (aber man sei gewarnt: die Lektüre ist wirklich schwer zu ertragen) [I], da darin u.a. die Rede ist von
“dominant, Western knowledge”, “White systems of knowledge”, “co-existing different knowledge systems”, “Western statistics”, “White establishment backlash”, “White male supremacy”,
was allesamt Indikatorbegriffe / buzzwords aus der Critical Theory / Critical Social Justice-Ideologie sind [II].
Soweit mir bekannt ist, ist das der erste öffentliche Versuch woker Ideologen über eine unserer Zeitschriften in unser Feld vorzudringen. Aus diesem Grund hatte ich mich hingesetzt und einen Brief an den Herausgeber der Zeitschrift geschrieben und zur Veröffentlichung eingereicht, damit dieser gefährliche Unsinn nicht einfach unwidersprochen bleibt. Ich hatte auch einige Kollegen gefragt, ob sie sich an der Erwiderung beteiligen wollten, aber entweder fanden sie den Artikel nicht anstößig bzw. problematisch oder sie hatten nicht den Mut…
Der Brief wurde von Science and Justice nicht zur Veröffentlichung angenommen, bzw. “gecancelt” denn
nature, tone and manner in which your letter is presented does not appear to provide a constructive and balanced argument on which the discussion of decolonisation within the forensic science curriculum can be advanced and fostered
Über diese, v.a. in Anbetracht des völlig aberwitzigen Artikels, auf den ich geantwortet habe, absurde und heuchlerische Begründung mußte ich doch erheblich schmunzeln. Gewundert hat es mich aber nicht, ich schätze, daß die fast sämtlich aus England stammende Herausgeberschaft schon stramme Woke-Soldaten sind (sonst wäre der urspr. Artikel nie angenommen worden). Aus diesem Grund habe ich meinen Brief hier verfügbar gemacht und hier im Blog gibt es ihn nun in deutscher Übersetzung. Er beginnt mit folgendem Orwell-Zitat:
“Zu guter Letzt würde die Partei verkünden, daß zwei und zwei fünf ergibt, und man würde es glauben müssen. Es war unvermeidlich, daß sie diese Behauptung früher oder später aufstellte: die Logik ihrer Position verlangte es. Ihre Philosophie leugnete nicht nur die Gültigkeit der Erfahrung, sondern sogar die schiere Existenz der äußeren Realität.”
-G. Orwell, “1984”
Sehr geehrter Herausgeber,
ich schreibe Ihnen, um meine tiefe Besorgnis und mein Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen, daß der Artikel mit dem Titel “Approaches to decolonising forensic curricula” von A.S. Chaussée et al. in Science & Justice zur Veröffentlichung angenommen wurde, aber auch über den Inhalt und die offensichtlich ideologischen und aktivistischen statt wissenschaftlichen Absichten und Ziele dieses Artikels, der unangemessenerweise als “Bericht über die berufliche Praxis” kategorisiert wird, obwohl er keineswegs “die Zusammenarbeit zwischen Berufen, die die Ergebnisse von Ermittlungen oder der Strafjustiz verbessern; die Entwicklung und Umsetzung von Qualitätsstandards für die Forensik und den Tatort” oder “die Auswirkungen verfahrenstechnischer, politischer oder kultureller Veränderungen auf Mitarbeiter in operativen forensischen oder polizeilichen Umgebungen” (wie von Ihrer Zeitschrift gefordert) beschreibt.
Stattdessen wird ganz unverhohlen dafür geworben, postmodernistische Theorie (mit großem T) und Aktivismus zur Dekonstruktion des “Westens” in die MINT-Fächer im Allgemeinen und die Lehre der forensischen Wissenschaften im Besonderen einzubringen, für die ich im Folgenden nur die forensische Genetik und Molekularbiologie vertrete.
Zuerst einmal muß ganz deutlich darauf hingewiesen werden, daß die Autoren bzw. ihre Ideologie versuchen, ihren Adressaten einen postmodernistischen epistemologischen Relativismus aufzuzwingen, der sich aus der Standpunkttheorie [1] ableitet. Die Standpunkttheorie, die aus marxistischen Ideen und ihrer postmodernistischen Adaption hervorgegangen ist, geht davon aus, daß Autorität in individuellem Wissen und in der persönlichen Perspektive des Einzelnen verwurzelt ist. Ihre Befürworter bezweifeln, daß es eine objektive Wahrheit gibt, von der jedoch die meisten Wissenschaftler glauben, daß sie durchaus existiert, und daß die Wissenschaft in kleinen, stetigen Schritten, dabei hin und wieder Fehler machend und vom Weg abkommend, sich aber schließlich selbst korrigierend und auf den richtigen Weg zurückbringend, danach strebt, jener immer näher zu kommen. Indem die Autoren jedoch wissenschaftlich bewiesene oder überprüfbare Wahrheiten als “dominantes, westliches Wissen” oder gar “weiße Wissenssysteme” stigmatisieren, scheinen sie zu argumentieren, daß Wissen provinziell, wenn nicht gar willkürlich und inhärent politisch ist und daß es so etwas wie “meine Wahrheit” gibt, die genauso gut ist wie “Deine Wahrheit” (“koexistierende unterschiedliche Wissenssysteme”) und keine davon muß sich dabei an Fakten und Evidenz messen lassen (ironischerweise ist diese Form eines postmodernistsichen kulturellen Masochismus’ eine typisch westliche Ideologie, die von westlichen Denkern erfunden wurde, die stark von westlicher Philosophie durchdrungen waren). Ich persönlich kann mir nichts Spaltenderes, Unwissenschaftlicheres, Anti-rationaleres vorstellen, und auch nichts Gefährlicheres und Zersetzenderes für das öffentliche Vertrauen, insbesondere in die forensische Wissenschaft.
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