Diese Position wird auch von Baron und Ejnes widergespiegelt, die in einer kürzlich erschienenen Ausgabe des NEJM schrieben:
“In der Ära der sozialen Medien und der stark politisierten Wissenschaft wird die “Wahrheit” zunehmend von der Allgemeinheit bestimmt: Wenn genügend Menschen etwas mögen, teilen oder glauben, werden andere es als wahr akzeptieren. Diese Art der Wahrheitsfindung beruht nicht auf wissenschaftlichen Methoden […] und ist nicht unbedingt hilfreich dabei, festzustellen, ob ein Gebäude einstürzt, ob Ihre Bremsen Ihr Auto zum Stehen bringen – oder ob ein Medikament oder ein Impfstoff wirkt.” [2]
oder, in unserem Fall, ob die richtige Person für ein Verbrechen verurteilt wird oder nicht. Es ist offensichtlich, daß Chaussée et al. darauf abzielen, die Wissenschaft zu politisieren und die wissenschaftliche Epistemologie zu untergraben, indem sie einer Modeerscheinung des angewandten Postmodernismus folgen, die sich in Ländern wie den USA und Großbritannien in den Geisteswissenschaften bereits weit ausgebreitet hat und nun, wie die Autoren selbst erklären, auf die MINT-Fächer abzielt.
Sie sprechen sogar von “westlicher Statistik”, als ob es auch eine “nicht-westliche Statistik” gäbe, oder anstatt einfach “Statistik” zu sagen; in der Tat gehen einige Befürworter/Aktivisten der postmodernistischen Theorie ja sogar so weit, die Gültigkeit der Mathematik selbst in Frage zu stellen und sie als “kolonial”, “rassistisch” usw. zu bezeichnen [3], indem sie behaupten, daß “die Kultur der weißen Vorherrschaft sich im Mathematikunterricht zeigt, wenn von den Schülern verlangt wird, ‘ihre Arbeit vorzuzeigen'”, da dies “die Anbetung des geschriebenen Wortes verstärken würde” [4]. Manche schrecken nicht einmal davor zurück, ihre Axiome wie 2 + 2 = 4 als bloß ein weiteres “hegemoniales Narrativ” zu “dekonstruieren”. Das Orwell-Zitat zu Beginn meines Schreibens diente also nicht nur der Einstimmung, sondern soll auch daran erinnern, daß “1984” als Warnung nicht als Instruktion gelesen werden sollte.
Folgerichtig zitieren die Autoren dann auch eine Quelle, die dazu aufruft, “die Wissenschaften ganz abzuschaffen und neu anzufangen, als den einzig legitimen Weg zur Dekolonisierung”. Und während sie diese Position wohl als “extrem” anerkennen (nicht falsch, wohlgemerkt!), stellen sie jedoch die bloße Ablehnung dieser ganzen “Dekolonisierungs-” und “DtC”-Nummer als vergleichbar extrem dar, wie die “Abschaffung” der gesamten Wissenschaften, was natürlich absurd und höchst unaufrichtig ist.
Aus Passagen wie diesen wird deutlich, daß die Position, die Chaussée et al. vertreten, keineswegs auf Beweisen beruht, sondern ideologisch verwurzelt ist und sich stattdessen auf “Ideenwäsche” (engl. “idea laundering”*; z.B. “Weißheit” (engl. “whiteness”) usw.) stützt: Würde man sie fragen, ob sie überhaupt Belege für viele der expliziten Behauptungen und impliziten Annahmen in ihrem Artikel haben, z. B. daß Wissenschaft/STEM irgendwie “kolonialistisch” oder nicht “gerecht” (Anm. CC: im Original wurde “equitable” verwendet) oder ein Auswuchs “dominanten, westlichen Wissens” sei, würde ich erwarten, daß sie antworten, daß man gar nicht zu fordern habe, derlei vorzulegen, und daß die schiere Aufforderung selbst “kolonialistisch” sei und nur eine weitere Manifestation eines “White establishment backlash” oder eines “privilege preserving pushbacks“, der “White Talk” [5] und “kognitive Ungerechtigkeit” und was des Theorie-Jargons noch mehr ist, hervorbringe. Das macht ihre Position natürlich nicht nur unbeweisbar (was in der Kritischen Theorie eher als intellektuelle Tugend denn als Laster angesehen wird) und unanfechtbar, sondern erzeugt auch einen Zirkelschluss, der in vernünftigen und rationalen Auseinandersetzungen das Ende eines Arguments bedeuten würde.
So bleiben die Autoren in ihren Forderungen nach der Notwendigkeit einer Dekolonisierung der Geschichte der forensischen Wissenschaft, nach der Beseitigung der “weißen männlichen Vorherrschaft” und nach einem Ende der “Feier des Genies einzelner weißer Männer” auch eher vage, verweisen jedoch auf vermeintliche kolonialistische Sünden, Schriften und Haltungen von Pionieren der forensischen Wissenschaft, oder, wie sie es ausdrücken, “‘Väter’ der forensischen Wissenschaft, die blindlings als Protagonisten akzeptiert werden, ohne die Degenerationsbewegung darzustellen, die einen Großteil ihrer Arbeit motivierte”, wie Francis Galton und Hans Gross. Dies sollte nach Ansicht der Autoren untersucht oder “demontiert” werden, aber sie erklären nicht und liefern keine Beweise dafür, inwiefern dies für die Anwendung der von Galton, Gross und anderen Wissenschaftlern formulierten Grundsätze und entwickelten Methoden von Bedeutung wäre.
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