“Hypothesen, welche der Geometrie zugrundeliegen”

Das in der Mathematik und Physik heute übliche Konzept von “Raum” (oder besser: von “Räumen”) ist das Konzept der Riemannschen Mannigfaltigkeit, das auf Bernhard Riemanns Habilitationsvortrag von 1854 zurückgeht.

Die Geschichte von Riemanns Habilitationsvortrag hat jeder Mathematiker schon häufiger gehört oder gelesen, hier noch einmal ganz kurz (zitiert aus O’Shea): Für seine Antrittsvorlesung reichte Riemann der Fakultät drei Themenvorschläge ein. Zum Ersten hatte er bereits Bahnbrechendes geleistet, für das Zweite war er Experte, und das Dritte lautete “Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen”. Über Geometrie hatte er noch gar nicht gearbeitet, auch wenn er offensichtlich schon eine Zeit lang darüber nachgedacht hatte. Die Entscheidung über das Thema oblag Gauß als Prüfungsvorsitzendem, und in der Praxis wählte dieser dasjenige, das dem Kandidaten am meisten lag. Gauß jedoch entschied sich für das Dritte, über das Riemann noch am wenigsten gearbeitet hatte.

Wie man aus seinem Nachlaß weiß, hatte Gauß (der damals schon 77 war) lange über die Grundlagen der Geometrie und des Raumbegriffs nachgedacht, auch wenn er nie etwas dazu veröffentlichte.
Im Prinzip geht es um die Frage, welche Geometrie ein Raum haben kann.
Natürlich gibt es neben der euklidischen Geometrie des Raumes (oder der Ebene) auch die (von Gauß umfassend erforschte) “innere Geometrie” von im Raum liegenden gekrümmten Flächen. (Offensichtlich hat z.B. die Sphäre eine andere Geometrie als die Ebene, beispielsweise ist die Innenwinkelsumme von Dreiecken größer als 180o.)

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Diese im Raum liegenden Flächen sind noch kein logischer Widerspruch zur euklidischen Geometrie (sie erfüllen einfach nicht die Axiome der euklidischen Geometrie). Seit den 1820er Jahren war aber durch Lobatschewski und Bolyai bekannt, daß es auch eine nicht-euklidische Geometrie gibt. (Gauß hatte seine Erkenntnisse dazu nie veröffentlicht.)
Die damals bekannten nicht-euklidischen Geometrien waren aber eigentlich nur einzelne exotische Beispiele.
Durch Riemanns Habilitationsvortrag hat man ein (auch heute noch so gebräuchliches) Konzept von “Raum”, das alle möglichen Geometrien umfaßt, die euklidische ebenso wie die sphärische oder hyperbolische, irgendwelche gekrümmten Flächen im Raum oder auch Einsteins vierdimensionale Raum-Zeit.

Der Beginn von Riemanns Vortrag:
“Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als die ersten Grundbegriffe für die Constructionen in Raume als etwas Gegebenes voraus. Sie giebt von ihnen nur Nominalde finitionen, während die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln; man sieht weder ein, ob und in wie weit ihre Verbindung nothwendig, noch a priori, ob sie möglich ist. Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis auf Legendre, um den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen, weder von den Mathematikern, noch von den Philosophen, welche sich damit beschäftigten, aufgehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl darin, dass der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehnter Grössen, unter welchem die Raumgrössen enthalten sind, ganz unbearbeitet blieb. Ich habe mir daher zunächst die Aufgabe gestellt, den Begriff einer mehrfach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössenbegriffen zu construiren.”
Eine Referenz für Gauß gibt es später auch noch:
“Es wird daher, um festen Boden zu gewinnen, zwar eine abstracte Untersuchung in Formeln nicht zu vermeiden sein, die Resultate derselben aber werden sich im geometrischen Gewande darstellen lassen. Zu Beidem sind die Grundlagen enthalten in der ber¨uhmten Abhandlung des Herrn Geheimen Hofraths Gauss über die krummen Flächen.”
Der Vortrag wurde übrigens erst postum 1868 veröffentlicht. (Durch Dedekind.)

Worin besteht Riemanns Konzept?
Zum einen erlaubt er nicht nur Vektor-Räume (wie die Ebene oder den 3-dimensionalen Raum), sondern allgemein “Mannigfaltigkeiten” (vgl. TvF 10), also Gebilde, die sich durch Karten überdecken lassen (und innerhalb der einzelnen Kartengebiete kann man dann Koordinaten wie in einem Vektor-Raum benutzen).
Und als Grundlage für die Längen-und Winkelmessung benutzt er (wie letzte Woche beschrieben) Skalarprodukte (im Tangentialraum jedes Punktes), deren Koeffizienten differenzierbare Funktionen (in den Koordinaten jeder einzelnen Karte) sind.
(Physiker bezeichnen dies als “metrischen Tensor”. Original war in Riemanns Vortrag übrigens von Linienelementen die Rede gewesen, also den Quadratwurzeln der Skalarprodukte.)

Hermann Weyl schrieb 1923 in seinen Erläuterungen zu einer Neuauflage von Riemanns Vortrag:
Das volle Verständnis für die Schlußbemerkungen Riemanns über den inneren Grund der Maßverhältnisse des Raums ist uns erst durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie erschlossen worden. […] so stellt sich Riemann hier im Gegensatz zu der bis dahin von allen Mathematikern und Philosophen vertretenen Meinung, daß die Metrik des Raumes unabhängig von den in ihm sich abspielenden physischen Vorgängen festgelegt sei und das Reale in diesen metrischen Raum wie in eine fertige Mietskaserne einziehe; er behauptet vielmehr, daß der Raum an sich nur eine formale dreidimensionale Mannigfaltigkeit […] ist und erst der den Raum erfüllende materielle Gehalt ihn estaltet und seine Maßverhältnisse bestimmt. Das “metrische Feld” ist prinzipiell von der gleichen Natur wie etwa das elektromagnetische Feld.

Der Riemann-Biograph Detlef Laugwitz meint übrigens, daß es Riemann in Wirklichkeit weniger darum ging, philosophische Fragen zum “Raum”-Verständnis zu klären (er hat keine weiteren Arbeiten zur Geometrie geschrieben und soll sich für die Arbeiten Bolyais oder Lobatschewskis zur nicht-euklidischen Geometrie nie interessiert haben), sondern daß er durch seine analytischen und funktionentheoretischen Arbeiten dazu gekommen ist, auch mehrdimensionale (gedachte) Räume zu gebrauchen. Wie auch immer, ohne den Begriff der Riemannschen Mannigfaltigkeit und des Metrischen Tensors hätte es Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie jedenfalls wohl nicht geben können.

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Kommentare (1)

  1. #1 rank zero
    14. Februar 2009

    Danke, tatsächlich dort auch noch ein Scan des Vortrages- aber mit der Gefahr, dass im Laufe des Jahres durch die Reorganisation der etwas in die Jahre gekommenen emis-Struktur wieder einmal ein `broken link” entsteht. Wir haben in der Datenbank leider dauerhaft das Problem mit Volltextlinks von Zeitschriften ohne doi – alle paar Jahre ändern die Verlage (dass sich kleine Häuser keine doi leisten, versteht man ja) ihre Webseiten, so dass harte URL-Links ins Leere laufen. Es gibt ein paar technische Möglichkeiten, das abzufangen bzw. halbautomatisch nachzuziehen, ist aber in der Masse ein hartes Brot.