Vladimir Arnold und Katastrophen in den Sozialwissenschaften.

Vor 2 Wochen ist Vladimir Arnold gestorben (wir hatten hier berichtet), dem wir u.a wichtige mathematische Beiträge zur Singularitätentheorie (“Katastrophentheorie”), und ebenso auch amüsante und polemische Beiträge zu Diskussionen über Mathematik, z.B. über die Anwendbarkeit der Katastrophentheorie in den Sozialwissenschaften verdanken.

Weil es letzte Woche gerade darum ging, wie man mit Singularitätentheorie das Komplement der Kleeblattschlinge fasern kann (was nächste Woche noch etwas allgemeiner diskutiert wird), paßt es hier ganz gut, auch einmal die (realen und umstrittenen) Anwendungen der Singularitätentheorie und Arnolds Beiträge zur Diskussion dazu zu erwähnen.

Mathematik von Singularitäten

Zunächst: worum geht es mathematisch?

Singularitäten von Funktionen f:R–>R sind, per Definition, die kritischen Punkte von f, d.h. Punkte wo die Ableitung Null ist.

f(x)=x2 hat einen kritischen Punkt in x=0, f(x)=x3 ebenfalls:

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Es gibt aber einen Unterschied zwischen diesen beiden Beispielen. Wenn man f(x)=x2 ein bißchen ändert, dann hat die ‘gestörte’ Funktion immer noch eine Singularität (evtl. nicht mehr in 0, aber in der Nähe von 0). Wenn man dagegen statt f(x)=x3 die ‘gestörte’ Funktion g(x)=x3+εx (mit einem kleinen ε>0) nimmt, dann hat g plötzlich keine Singularität mehr. (Die Ableitung ist 3x2+ε, was keine Nullstellen hat.)
Man sagt, die Singularität von f(x)=x3 ist instabil.
Stabile Singularitäten von Funktionen f:R–>R sehen immer so aus wie die Parabel.

Singularitäten von Flächen

Die analoge Frage: welche stabilen Singularitäten gibt es für Abbildungen f:R2–>R2, wurde 1955 von Whitney beantwortet:
Es gibt nur 2 Typen stabiler Singularitäten: die Fold-Katastrophe und die Cusp-Katastrophe. Im ersten Fall sehen die Singularitäten aus wie die Umgebung des Äquators bei Projektion der Einheitssphäre auf die x-y-Ebene. Im zweiten Fall sieht die Singularität so aus:

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Anwendungen der Katastrophentheorie

Neben (realen) Anwendungen z.B. in Elastizitätstheorie oder Optik findet die Singularitätentheorie und speziell die oben abgebildete Cusp-Katastrophe auch immer wieder (umstrittene) Anwendungen in anderen Wissenschaftszweigen.

Dieses Bild stammt z.B. aus einer sportwissenschaftlichen Arbeit:

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dieses aus einer psychoanalytischen Arbeit:

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und dieses aus einem Artikel über Börsen-Crashs:

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Die Argumentation ist immer so: man hat 3 Größen, die zusammenhängen, wenn man 2 Größen ändert, dann ändert sich auch die dritte: zunächst stetig, aber an einer Stelle kommt es zur Katastrophe – wenn man die Kante der Cusp-Katastrophe überschreitet und vom oberen auf den unteren Teil der Fläche fällt: der 3.Wert fällt sprunghaft ab, obwohl sich die ersten beiden Werte nur geringfügig verändert haben.

Notabene: im Gegensatz zu Anwendungen der Katastrophentheorie z.B. in der geometrischen Optik geht es hier nicht um bekannte Funktionen (Abhängigkeiten zwischen den betrachteten Größen), deren Singularitäten man analysiert, sondern es wird einfach postuliert, daß die Entwicklung des Systems sich durch die Cusp-Singularität beschreiben läßt.

Arnolds Replik

In Kapitel 3 seines Buches “Catastrophe Theory” greift Arnold dieses Beispiel auf und gibt eine weitere Anwendung (Bild unten):

We shall characterize a creative personality (e.g. a scientist) by three parameters, called ‘technique’, ‘enthusiasm’ and ‘achievement’, Clearly these paarmeters are inter-related. So we have a surface in 3-dimensional space with coordinates (T,E,A).

[…]

a growth of enthusiasm not supported by a corresponding growth in technique leads to a catastrophe (at the point 4 of curve 3 in fig.6) where achievement falls by a jump and we drop to the domain denoted by the word ‘maniac’. We see that the jump from the state of genius to that of maniac and back goes along various lines so that for sufficiently great enthusiasm a genius and maniac can possess identical enthusiasm and technique, differing only in achievement (and previous history).

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