Der folgende Artikel ist ein Bericht über eine Panel-Diskussion auf dem Heidelberg Laureate Forum. I.W. denselben Artikel (mit mehr Bildern) kann man auch auf dem HLF-Blog ansehen.
Die Diskussion fand am Dienstag nachmittag in der Alten Universität Heidelberg statt, mit acht Panelisten und wohl mehr als 200 Zuhörern.
Einer der Teilnehmer war Pheakdey Nguonphan, Dekan der neugegründeten Ingenieurwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Phnom Penh in Kambodscha. (Übrigens diplomierter Architekt mit einer Promotion in Computer-Modellierung 2009 an der Universität Heidelberg.) Er sprach über die Schwierigkeiten beim Übergang von der Agrar- zur IT-Gesellschaft. Ein Tortendiagramm der Promotionen in Kambodscha zeigt ein klares Übergewicht von Sozialwissenschaften, Management und Agrarwissenschaft, nur 0.8% der Promotionen sind im Ingenieurwesen, nur 0.1% in der Informatik. (Mathematik und Naturwissenschaften kamen gar nicht vor.) Klar (und auch politisch gewollt) sei zwar, die Zahl der Jobs in der Landwirtschaft zu reduzieren. Es sei aber bisher nicht klar, was deren Stelle einnehmen könne. Studenten hätten keine erkennbare Perspektive, was sie mit einem Mathematik- oder Informatikstudium später beruflich machen könnten und würden sich deshalb gegen ein solches Studium entscheiden. Ein Mathematikstudium gälte gemeinhin als Einstieg in den Lehrerberuf, der zwar angesehen, aber sehr schlecht bezahlt und deshalb wenig attraktiv ist. Ein weiterer Ausbau der Mathematik und Informatik an Universitäten könne also nicht losgelöst von der Frage nach der Schaffung der für Absolventen solcher Studiengänge passenden Jobs betrachtet werden.
Ähnlich ist die Lage im westafrikanischen Niger: Mathematik findet laut Adamou Ibrahim nur an Schulen und Universitäten statt, Informatik wird eher mit “Office Automation” in Verbindung gebracht. Dabei werden Mathematik und Informatik dort von der Regierung wie auch von ausländischen Instituten wie dem CIMPA und dem ICTP (unter anderem durch die gemeinsame Betreuung von Doktoranden) sehr unterstützt. Amadou Ibrahim nannte als wichtigstes Problem das Fehlen qualifizierter Lehrer und dementsprechend die bei vielen Studenten fehlenden Voraussetzungen für ein Mathematik- oder Informatik-Studium. Andererseits war er sehr enthusiastisch über die Zukunft und nannte als Beispiel einer neuen Entwicklung das GeoGebra Institute of Niger.
Keine Probleme mit Motivation und Berufsperspektiven hat man in Indien, wo es pro Jahr eine halbe Million Informatik-Studenten gibt, eine Zahl, die auch dann noch beeindruckend ist, wenn man weiß, dass die “Gesamtstärke” eines Jahrgangs bei 25 Millionen Indern liegt. Auf der anderen Seite gibt es nur 150 Promotionen und der Research Output liegt hinter dem wesentlich kleinerer Länder wie Holland oder Israel. Und: zwar hat die IT-Revolution Millionen Jobs in Indien geschaffen, dort lösen indische Programmierer aber die Probleme anderer Länder und nicht die eigenen.
PJ Narayanan machte dann auch als Hauptproblem für die weitere Entwicklung den utilitaristischen Blick auf die Ausbildung selbst bei Promovenden aus. Absolventen würden jedes Risiko vermeiden und einen Job bei einem der großen Global Player anstreben, Arbeitsplätze in einem Startup oder in der Wissenschaft gälten nicht als attraktiv. (ACM-Präsident A.L.Wolf kommentierte dazu, dass nach seiner Erfahrung Inder außerhalb Indiens durchaus risikobereit und oft auch forschungsorientiert seien, dies aber offenbar nicht auf Inder in Indien zuträfe.) Inzwischen haben einige Firmen wie Hewlett Packard und Microsoft auch Forschungszentren in Indien eröffnet. Naranyan nannte als wichtiges Problem die Identifizierung nationaler Projekte, bei denen Computerwissenschaft eine Rolle spielen könne. Außerdem sprach er sich für eine forschungsorientierte Ausbildung an Universitäten aus
Sehr ausführlich stellte Mohammad Kaykobad die Entwicklung der Mathematikolympiaden und anderer Schülerwettbewerbe in Bangladesh dar. Bangladesh hat eine Analphabetenquote von 43% (zum Vergleich: Korea 2%, Indien 26%), es gibt zwar (bei 150 Millionen Einwohnern) immerhin 114 Millionen Handys, aber weniger als 10 Millionen Internetnutzer, und es gibt nicht genug Schulen für die hohe Bevölkerungszahl. Kaykobad und seine Mitstreiter versuchen, die wissenschaftliche Bildung mit vielen Projekten zu fördern, mit Schülerwettbewerben oder zum Beispiel dem Buch Neurone Onuronon.
Sehr ausführlich wurde auch über die Situation in Ecuador berichtet, wozu Beatrice Lugger ausführlicher in ihrem Artikel geschrieben hat, weshalb ich mich hier etwas kürzer fassen kann. (Siehe auch Maths, Coca and Talent von Michele Catanzaro.) Der erste mathematische Fachbereich wurde in Ecuador 1975 gegründet, bis 2003 gab es keine Forschungsgruppen und keine Doktoranden, zwischen 1975 und 2003 schlossen etwa 150 Absolventen ein Mathematikstudium ab. Inzwischen gibt es zwei weitere Mathematik-Fachbereiche, etwas mehr Forschungs-Output, allerdings kaum angewandte Analysis oder Optimierung. Hermann Mena war 2007 der erste Promovierende, bis 2011 gab es acht Promotionen, seitdem wird das PhD-Programm aber nicht mehr fortgesetzt. Das erste PhD-Programm war seinerzeit von der TU Berlin unterstützt worden, die Doktoranden hatten an einem Sommerkurs in Berlin teilgenommen und sich dort Betreuer für ihre Promotion gesucht. Auch wegen finanzieller Engpässe (die Stipendien seien wegen Geldmangel von ursprünglich 800$ bis auf 400$ gekürzt worden) brachen einige Doktoranden ihre Promotion aber vorzeitig ab. Über Menas Projekt (die Klärung eines Rechtsstreits mit mathematischen Mitteln, welche Ecuador 15 Millionen Dollar Strafzahlung vom Nachbar Kolumbien einbrachte) hat Beatrice schon berichtet, die Moral der Geschichte sollte wohl sein, dass man Politik und Allgemeinheit bewegende Themen bearbeiten müsse, um Anerkennung und Gelder für die Mathematik zu erhalten.
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