Grothendiecks Ziel war es dann, ein algebraisches Riemann-Roch-Theorem zu beweisen, also für Varietäten über beliebigen Körpern. Das lag nahe, denn manche der Teilresultate von Kodaira und Spencer ließen sich in die algebraische Situation übertragen. Für eine Verallgemeinerung des Satzes von Hirzebruch-Riemann-Roch wären aber zunächst die charakteristische Klassen für Varietäten allgemein zu definieren. In einem Brief an Serre meinte Grothendieck, er sehe nicht, warum man nicht mittels universeller Bündel zu charakteristischen Klassen kommen sollte, die in einem algebraischen Riemann-Roch-Theorem dieselbe Rolle spielen sollten wie im komplexen. Serres Antwort: “Nein, man soll nicht die charakteristischen Klassen als Elemente in der Kohomologie kohärenter Garben zu definieren versuchen. Das sind Vektorräume über der Basis, aber man will Schnitte mit ganzzahligen Koeffizienten definieren können. Übrigens kennt man schon die “letzte” charakteristische Klasse und es ist die Klasse eines Divisors bis auf lineare Äquivalenz. Es ist absolut sicher, dass man die anderen als Äquivalenzklassen algebraischer Zykel modulo numerischer Äquivalenz definieren kann. Und das sollte sogar nicht schwer sein. Die Seiten der Riemann-Roch-Formel sind ganze Zahlen, selbst in Charakteristik p.”
Ein Jahr lang hörte Serre nichts von Grothendieck, dann kam dessen nächster Brief: “Lieber Jean-Pierre, hier ein sehr einfacher Beweis des Riemann-Roch-Theorems in beliebiger Charakteristik. Fast alles aus meinem vorherigen Bericht wird überflüssig. Der neue Beweis scheint aber weniger in die Tiefe zu gehen.”
Die Formulierung des Resultats benutzte zu einer Varietät X die von der Halbgruppe der beschränkten Komplexe kohärenter Garben erzeugte Gruppe K(X) und die Gruppe A(X) der Zykel modulo rationaler Äquivalenz. Die Rolle der Chern-Klassen übernahm ein als Chern-Charakter bezeichneter Morphismus ch:K(X)—>A(X). Die Aussage des Satzes war dann ein kommutatives Diagramm, nämlich dass für jeden Morphismus f:X—>Y und einen beschränkten Komplex von Garben über X die Gleichung
gilt. Für Vektorbündel über Kurven berechnet man
, was für Divisoren (Linienbündel, also n=1) die kohomologische Version des klassischen Riemann-Roch-Theorems liefert. Das war nicht nur die gesuchte Verallgemeinerung des Satzes von Riemann-Roch für Varietäten über anderen Körpern als den komplexen Zahlen. Es war vor allem auch ein sehr viel stärkerer Satz als die von Hirzebruch bewiesene Formel und er hatte einen sehr viel einfacheren Beweis. Für Abbildungen des projektiven Raumes auf den Punkt handelt es sich einfach um das Analog zu Hirzebruchs Formel im speziellen Fall projektiver Räume. Aus allgemeinen Eigenschaften von K-Gruppe und Zykelgruppe kann man dann den Fall von Projektionen PnxX—>X herleiten. (Die K-Gruppe von Pn ist von den Potenzen des Linienbündels O(1) erzeugt, das folgt aus Hilberts Syzygiensatz.) Auch für Immersionen kann man die Behauptung leicht beweisen. Aus diesen drei Ergebnissen konnte Grothendieck dann aber schon den allgemeinen Fall herleiten, denn jeder Morphismus X–>Y faktorisiert in eine Immersion X–>PnxY und eine Projektion PnxY–>Y. Der Beweis des Satzes für Morphismen war also sehr viel einfacher als der ursprüngliche für Varietäten X (der dem Spezialfall von Morphismen X—>Punkt entspricht). Alle Garben und alle Morphismen gleichzeitig zu behandeln – statt nur Vektorbündel auf einer gegebenen Varietät – hatte es durch Arbeiten mit Hintereinanderausführungen, Produkten und Aufblasungen ermöglicht, das Resultat für einen allgemeinen Morphismus auf die zwei Spezialfälle von Projektionen und Immersionen zu reduzieren. Dieser einfache Beweis war eine überzeugende Bestätigung für Grothendiecks Philosophie, statt mathematischer Objekte die Morphismen zwischen ihnen zu untersuchen.
Der scheinbare Abschluß der algebraischen Geometrie war nur der Anfang einer neuen Entwicklung gewesen. Varietäten und allgemeiner Schemata betrachtete man von nun ab relativ, also als Morphismen zu einem Basisschema.
Grothendieck stellte seinen Beweis erstmals 1957 auf der ersten Arbeitstagung in Bonn vor, in vier Tagen eine Reihe von insgesamt zwölf Vorträgen. Borel und Serre schrieben Grothendiecks Beweis auf und veröffentlichten ihn 1958 im Bulletin de la Société Mathématique de France. Grothendieck selbst war mit seinem Beweis nicht zufrieden, weil er einen Trick benutzte. Seine Philosophie war, dass Mathematik zu einer Abfolge kleiner, natürlicher Schritte reduziert werden sollte. Deshalb veröffentlichte er seinen Beweis auch nicht selbst.
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