Kähler hatte Ende der 50er Jahre auch versucht, Zahlentheorie und Geometrie zusammenbringen, indem er Varietäten über lokalen Ringen statt nur über Körpern betrachtete. Nach dem Erscheinen von Grothendiecks Arbeiten verfolgte er dieses Programm aber nicht weiter. Die Geometrie von Kähler-Mannigfaltigkeiten wurde jedoch zu einem wichtigen Ideengeber für die algebraische Geometrie. Die ursprünglich von Hodge für Kähler-Mannigfaltigkeiten entwickelte Theorie harmonischer Formen ließ sich durch Hironakas Auflösung der Singularitäten auch auf projektive Varietäten mit Singularitäten übertragen, was zu Delignes Theorie der gemischten Hodge-Strukturen führte. In einer anderen Richtung entwickelten Goresky und MacPherson eine sogenannte Schnittkohomologie für projektive Varietäten (mit Singularitäten), für die man analog zur Dolbeault-Kohomologie von Kähler-Mannigfaltigkeiten ebenfalls Poincaré-Dualität, den schweren Lefschetz-Satz und die Hodge-Riemann-Relationen hat.
Mit den Standardvermutungen soll es ein solches Lefschetz-Paket dann auch auf den Chow-Gruppen algebraischer Varietäten geben. Damit wollte Grothendieck insbesondere zeigen, dass seine Kategorie der reinen Motive eine halbeinfache abelsche Kategorie ist und eine universelle Kohomologietheorie für Schemata gibt. Die Weil-Vermutungen ergäben sich daraus als Anwendung.
Während für die Gültigkeit von Grothendiecks Standardvermutungen heute nicht viel mehr Fälle bekannt sind als 1968 (abelsche Varietäten, Fahnenvarietäten, verschiedene spezielle Beispiele), wurden die Weil-Vermutungen 1974 von Deligne bewiesen. Er benutzte statt der Standardvermutungen explizitere Methoden der Zahlentheorie wie Modulformen und neben den Methoden aus Grothendiecks Eléments de Géométrie Algébrique noch zahlreiche andere Ingredienzien wie einen von Kazhdan und Margulis bewiesenen Satz über die Monodromiegruppen von Lefschetz-Büscheln, eine Methode Rankins für Abschätzungen von Ramanujans Tau-Funktion, Arbeiten Grothendiecks über gewisse L-Funktionen, die klassische Invariantentheorie der symplektischen Gruppen, Spektralsequenzen und einen Trick, der mit Tensorpotenzen Abschätzungen beweist. Grothendieck beschwerte sich später in Récoltes et Semailles bitterlich, dass seine Arbeit von seinen Schülern nicht fortgesetzt worden sei und diese die Schwierigkeiten einfach “umgangen” hätten.
Säen und Ernten
Der New Yorker hatte im Mai einen Artikel “The Mysterious Disappearance of a Revolutionary Mathematician” von Rivka Galchen über Alexander Grothendieck. Mit zahlreichen Vergleichen, Geschichten und Veranschaulichungen wurde versucht, auch dem Laien das Revolutionäre an Grothendiecks Mathematik nahezubringen ohne in irgendwelche mathematischen Details zu gehen. Beispielsweise wurde sein funktorieller Zugang zur Mathematik mit einem Zitat von Angela Gibney so beschrieben
If you want to know about people, you don’t just look at them individually – you look at them at a family reunion.
Bereits im Januar war (nach mehr als 35 Jahren) Grothendiecks 1500-seitiges Spätwerk “Récoltes et Semailles” bei Gallimard erschienen, ein Buch über philosophische und das Überleben der Menschheit betreffende Fragen und auch über Mathematik und Mathematiker. Grothendieck beschreibt in diesem Buch seinen Weg und beklagt sich, dass Studenten und Kollegen seine Arbeit nicht fortgeführt, sondern mathematische Probleme auf andere Weise gelöst hätten.
Zum Verständnis hilft es vielleicht, Teile der veröffentlichten Korrespondenz Grothendieck-Serre zu lesen. Die letzten Briefe dieser Korrespondenz datieren von 1986/87 und Serre schreibt dort (meine Übersetzung)
Irgendwo beschreibst Du Deinen Zugang zur Mathematik, bei dem man ein Problem nicht frontal angeht, sondern es in eine sanft ansteigende Flut (“Rising Tide”) allgemeiner Theorien einhüllt und so aufweicht. Sehr gut: Das ist Deine Arbeitsweise, und was Du getan hast, beweist, dass es tatsächlich funktioniert. Für topologische Vektorräume oder algebraische Geometrie zumindest . . . Es ist nicht so offensichtlich für die Zahlentheorie (bei der die beteiligten Strukturen alles andere als offensichtlich sind – oder vielmehr, bei der alle möglichen Strukturen involviert sind); Ich habe den gleichen Vorbehalt für die Theorie der Modulformen, die sichtbar reicher ist als ihr einfacher „Lie-Gruppen“-Aspekt oder ihr „algebraische Geometrie-Modulschemata”-Aspekt. Deshalb diese Frage: Hast Du in Wirklichkeit nicht zwischen 1968 und 1970 festgestellt, dass die „Rising Tide“-Methode gegen diese Art von Fragen machtlos war und dass ein anderer Stil erforderlich gewesen wäre – den Du nicht mochtest?
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