Mengen, Kategorien, Funktoren – zum formalen Aufbau der modernen Mathematik.
In Kapitel 8 von “Wie Mathematiker ticken” geht es zunächst um den Dualismus zwischen dem konzeptuellen Aspekt (z.B. unterschiedliche Geometrien, Erlanger Programm) und dem formalen Aspekt (Formensprache, strenge Ableitungsregeln, Axiomensystem) der Mathematik.
Nach Bourbaki will man die Mathematik aus den Axiomen der Mengenlehre aufbauen. Ruelle erklärt an einem elementaren Beispiel, wie man sich das vorzustellen hat: am Beispiel der Ordnungsrelationen (z.B. die “grösser als”-Relation für reelle Zahlen).
Sei R eine Menge mit einer Ordnungsrelation.
Um die Ordnungsrelation in der Sprache der Mengenlehre zu beschreiben, betrachtet man einfach die Menge M derjenigen Paare (x,y) aus RxR, für die x>y ist. Mit diesem einfachen “Trick” kann man dann jede Aussage über die Ordnungsrelation > in eine Aussage über die Menge M umformulieren.
Zum Beispiel: Transitivität der Ordnungsrelation übersetzt sich in folgende Aussage über die Menge M: wenn (x,y) und (y,z) beide zu M gehören, dann gehört auch (x,z) zu M.
Man betrachtet in der modernen Mathematik also Mengen mit Strukturen. Diese Struktur kann z.B. eine Ordnungsrelation sein, oder die Menge kann z.B. zusätzlich die Struktur einer Gruppe haben, oder die Struktur eines Vektorraums, oder …
Zwischen Mengen X,Y hat man Abbildungen f:X–>Y. Zwischen Mengen mit Zusatzstruktur hat man Morphismen, das sind “struktur-erhaltende” Abbildungen. (Im Fall von Ordnungsrelationen heißt strukturerhaltend: aus x>y folgt f(x)>f(y). Im Fall von Gruppen heißt strukturerhaltend: aus z=xy folgt f(z)=f(x)f(y).)
Morphismen schreibt man als Pfeile. Die Hintereinanderausführung zweier Morphismen f und g nennt man gof:
Als nächstes betrachtet man dann Mengen eines bestimmten Strukturtyps (zusammen mit den dazugehörigen Morphismen). Diese werden als Kategorie (mit “Objekten” und “Morphismen” zwischen Objekten) zusammengefaßt.
(Es gibt also eine Kategorie der Mengen, deren Morphismen alle Abbildungen sind; eine Kategorie der geordneten Mengen, deren Morphismen die ordnungserhaltenden Abbildungen sind; eine Kategorie der topologischen Räume, deren Morphismen die stetigen Abbildungen sind; eine Kategorie der Gruppen, eine Kategorie der Vektorräume und so fort.)
Als nächste Abstraktionsstufe betrachtet man dann “struktur-erhaltende” Abbildungen zwischen Kategorien, sogenannte Funktoren. (Ein Beispiel eines Funktors ist die Fundamentalgruppe eines topologischen Raumes: das ist ein Funktor von der Kategorie der topologischen Räume in die Kategorie der Gruppen.)
Die Begriffe Kategorie und Funktor wurden etwa 1950 (von Samuel Eilenberg und Saunders Mac Lane) eingeführt und entwickelten sich rasch zu wichtigen begrifflichen Werkzeugen in der Topologie und der Algebra. Kategorien und Funktoren können als das ideologische Rückgrat eines wichtigen Teils der Mathematik des 20. Jahrhunderts gelten; Mathematiker wie Grothendieck verwendeten diese Begriffe ständig.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass man im ideologischen Hintergrund wichtiger Gebiete der Mathematik Ende des 20. Jahrhunderts ständig mit Strukturen und deren Relationen befasst war. Manche Fragen stellen sich von selbst, und mancher strukturelle Aufbau bietet sich von selbst an. Die Frage, wie die begrifflichen Bausteine der Mathematik zu finden seien, ist damit gewissermassen beantwortet. Die Antwort liegt in den Strukturen, Morphismen, vielleicht auch noch in den Kategorien, Funktoren und verwandten Konzepten. Wie gut diese Antwort ist, lässt sich an der Fülle der erzielten Resultate ermessen.
Um klarzustellen, daß nicht alle Mathematik von Kategorien und Funktoren dominiert wird, bringt er noch das Beispiel von Paul Erdös, einem berühmten “Problemlöser” (im Gegensatz zu “Theorie-Konstrukteuren” wie Weil und Grothendieck.)
(Man könnte auch erwähnen, daß in Ruelle’s eigenen Forschungs-Arbeiten über seltsame Attraktoren, dynamische Zeta-Funktionen oder statistische Mechanik sicherlich strukturelle Aspekte eine vergleichsweise geringere Rolle spielten, jedenfalls im Vergleich zum Nutzen der Kategorien-Theorie etwa in Algebraischer Geometrie und Topologie.)
Die philosophische Suche nach den fundamentalen Strukturen der Mathematik könne man als erfolgreich in dem Sinne bezeichnen, dass sie Konzepte hervorgebracht hat, die mit erschreckender Effizienz neue Ergebnisse hervorbringen und alte Probleme lösen.
[…]
Die Strukturen der Mathematik (“Strukturen” hier im weiteren Wortsinne) gleichen den reinen Ideen bei Platon, und der Mathematikphilosoph hat Zugang zu ihnen, während seine weniger glücklichen Zeitgenossen im nichtmathematischen Dunkel gefesselt bleiben.
Ruelle selbst hält den mathematischen Platonismus aber für irreführend:
Wenn wir uns mit den formalen Aspekten der Mathematik befassen, mag die Berücksichtigung des Geistes irrelevant sein, nicht jedoch, wenn wir begriffliche Aspekte erörtern.
Um die Beziehung zwischen Geist und Realität und um die Natürlichkeit der mathematischen Konzepte und Strukturen soll es dann in den nächsten Kapiteln gehen.
Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik
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