Das von Carl Friedrich Gauß in seinem Jugendwerk Disquisitiones Arithmeticae bewiesene quadratische Reziprozitätsgesetz gilt heute als der Übergang von der elementaren zur algebraischen Zahlentheorie: es handelt sich um ein elementares Problem, das von Gauß mit elementaren Mitteln bewiesen wurde, jedoch machte die Suche nach Verallgemeinerungen des Reziprozitätsgesetzes große Teile der dann entstehenden algebraischen Zahlentheorie aus.

Beim Reziprozitätsgesetz geht es um die Lösbarkeit der Gleichung x2=p mod q, genauer um den Zusammenhang zwischen der Lösbarkeit dieser Gleichung und der der „reziproken“ Gleichung x2=q mod p für ungerade Primzahlen p,q.
Die Konklusion des Reziprozitätsgesetzes ist: wenn wenigstens eine der beiden Primzahlen kongruent 1 mod 4 ist, dann ist die eine Gleichung genau dann lösbar, wenn es die andere ist; wenn beide Primzahlen kongruent 3 modulo 4 sind, ist es genau umgekehrt.
Um das in eine griffige Formel zusammenzufassen, verwendet man das Legendre-Symbol \left(\frac{p}{q}\right) , welches 1 sein soll, wenn x2=p mod q eine Lösung hat, -1 andernfalls. Dann besagt das Reziprozitätsgesetz \left(\frac{p}{q}\right)\left(\frac{q}{p}\right)=\left(-1\right)^{\frac{p-1}{2}\frac{q-1}{2}} für ungerade Primzahlen p,q.
Das Legendre-Symbol läßt sich auch definieren, wenn p keine Primzahl ist und ist dann multiplikativ. Damit bekommt man einen systematischen Zugang zur Lösbarkeit quadratischer Kongruenzen. Zum Beispiel kann man die Lösbarkeit der Gleichung x2=57 mod 127 mittels \left(\frac{57}{127}\right) = \left(\frac{3}{127}\right)\left(\frac{19}{127}\right) untersuchen, wobei sich beide Faktoren mit dem Reziprozitätsgesetz bestimmen lassen. Weil 127=1 mod 3 ein quadratischer Rest ist, ist \left(\frac{3}{127}\right)=-\left(\frac{127}{3}\right)=-1 . Mit etwas mehr Arbeit berechnet man \left(\frac{19}{127}\right) =-\left(\frac{127}{19}\right)=-\left(\frac{13}{19}\right)=-\left(\frac{19}{13}\right)=-\left(\frac{6}{13}\right)=-\left(\frac{2}{13}\right)\left(\frac{3}{13}\right)=\left(\frac{13}{3}\right)=\left(\frac{1}{3}\right)=1 , insgesamt also \left(\frac{57}{127}\right) = -1 .

Es hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts zahlreiche neue Beweise und Verallgemeinerungen des Reziprozitätsgesetzes gegeben. Man kann das quadratische Reziprozitätsgesetz als ein Gesetz über quadratische Zahlkörper ansehen und fand dann Verallgemeinerungen für biquadratische Reste (Gauß, über Z[i]), kubische Reste (Jacobi, Eisenstein, über Z[(1+√3)/2]), schließlich für Primzahlpotenzen und für Kreisteilungskörper (Kummer). Kummer hatte ein “Symbol” entwickelt, das in Kreisteilungskörpern die Lösbarkeit von xn = α mod p beschrieb, und für dieses in neunjähriger Arbeit das Reziprozitätsgesetz bewiesen. Er benötigte aber Teilerfremdheitsbedingungen, die auch die Beweise verkomplizierten.

Hilbert konnte das quadratische Reziprozitätsgesetz mit Hilfe eines neuen Symbols (a,b)l (für eine beliebige Primzahl l, wobei auch l=∞ eine zulässige „Primzahl“ ist) verallgemeinern. Die Definition dieses Symbols war bei ihm etwas umständlich formuliert: das Symbol sollte 1 sein, wenn man zu jeder Potenz von l eine ganze Zahl in Q(√b)findet, deren Norm kongruent zu a modulo der Potenz von l ist, andernfalls sollte das Symbol -1 sein. Mit den später entdeckten l-adischen Zahlen definiert man das Symbol als 1, wenn es eine Lösung von z2=ax2+by2 in l-adischen Zahlen gibt, wobei für l=∞ mit den l-adischen Zahlen die reellen Zahlen gemeint sind. Für dieses Symbol bewies Hilbert die Produktformel \Pi_l (a,b)_l = 1.

Wenn a=p und b=q ungerade Primzahlen sind, bekommt man die folgenden Ergebnisse.

Für l = q ist (p,q)_q = (p | q).

Für l = p ist (p,q)_p = (q | p).

Für l = 2 ist (p,q)_2 = (-1)^{\frac{p-1}{2}\frac{q-1}{2}}.

Für alle anderen l, einschließlich l=∞, ist (p,q)_l = 1.

Man sieht unmittelbar, dass das quadratische Reziprozitätsgesetz äquivalent dazu ist, dass in diesem speziellen Fall die Gleichung \Pi_l(p,q)_l = 1 gilt.
In diesem speziellen Fall spielt es keine Rolle, dass man auch den Fall l=∞ mit hinzunimmt. (Es würde sogar reichen, nur über 2, p und q zu multiplizieren.) Damit die Formel \Pi_l (a,b)_l = 1 in voller Allgemeinheit für alle a,b gilt, muss man aber über alle Primzahlen und l=∞ multiplizieren, was ein Beispiel für die heute in der Zahlentheorie verbreitete Sichtweise ist, dass man schönere Formeln bekommt, wenn man ∞ als eine weitere Primzahl “im Unendlichen” ansieht.

Hilberts Produktformel erschien im dritten Kapitel des 1897 für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung veröffentlichten „Zahlberichts“, der den aktuellen Stand der algebraischen Zahlentheorie darstellen und insbesondere die schwerverständlichen Arbeiten von Kummer, Kronecker und Dedekind den jüngeren Zahlentheoretikern zugänglich machen sollte.

Neu am Zahlbericht war vor allem der Zugang über die Theorie der Körpererweiterungen, deren Bedeutung deutlicher hervortrat als bei Vorgängern. Der gruppentheoretische Aspekt der Galois-Theorie war bei Hilbert nicht mehr eine Theorie der Polynome und ihrer Wurzeln, sondern wie bei Dedekind der von diesen Wurzeln erzeugten Zahlkörper, und entsprechend wurden zahlentheoretische Eigenschaften in einer idealtheoretischen Sprache formuliert. Beispielsweise ist q (für q≠2,p) genau dann ein quadratischer Rest modulo p, wenn das Primideal (q) in Z im Ganzheitsring des Zahlkörpers Q(√p) als Produkt zweier Primideale zerfällt. In diesem Stil wurden dann auch die Symbole und Reziprozitätsgesetze formuliert. Allgemein betrachtet man eine Körpererweiterung L/K und hat dann zu einem Primideal p in OK die eindeutige Primidealzerlegung p=P_1^{e_1}\ldots P_r^{e_r} in OL. (Falls alle ei=1 sind, spricht man von einer unverzweigten Erweiterung.) Im Falle Galoisscher Körpererweiterungen wirkt die Galois-Gruppe transitiv auf den über p liegenden Primidealen.

Der Zahlbericht bestand aus fünf Kapiteln mit den Themen Zahlkörper, Körpererweiterungen, quadratische Zahlkörper, Kreisteilungskörper und Kummer-Theorie. Die ersten beiden Kapitel behandelten den damals neuen idealtheoretischen Zugang Dedekinds und enthielten beispielsweise den berühmten Satz 90. Im dritten Kapitel wurde Gauß‘ Theorie quadratischer Formen in die Sprache quadratischer Zahlkörper übertragen und insbesondere die das Reziprozitätsgesetz verallgemeinernde Produktformel bewiesen. Im vierten Kapitel über Kreisteilungskörper fand sich insbesondere der erste vollständige (von Hilbert schon ein Jahr zuvor in einer Arbeit veröffentlichte) Beweis des Satzes von Kronecker-Weber. Das fünfte Kapitel schließlich diskutierte Kummers Theorie über durch Adjunktion n-ter Einheitswurzeln entstehende Körpererweiterungen.

Nachdem er im Zahlbericht die Produktformel nicht nur für den Körper der rationalen Zahlen, sondern auch für quadratische Zahlkörper bewiesen hatte, versuchte Hilbert als nächstes, die Produktformel für beliebige Zahlkörper zu beweisen. Dieser Beweis stieß aber auf Schwierigkeiten, die letztlich zur Entwicklung der Klassenkörpertheorie führten.

Klassenkörpertheorie hatte ihren Ursprung in einer Arbeit Kroneckers, der mit der Theorie der komplexen Multiplikation gezeigt hatte, dass man zu einem imaginär-quadratischen Zahlkörper K=Q(√-d) eine Erweiterung L hat, deren Grad die Klassenzahl von K ist, und für die jedes Ideal in K ein Hauptideal in L wird. Aufgrund älterer Berechnungen hatte er vermutet, dass die Diskrimante eine Einheit, die Erweiterung also unverzweigt ist. (Als seinen „Jugendtraum“ bezeichnete Kronecker die Idee, dass alle Erweiterungen imaginär-quadratischer Zahlkörper mit abelscher Galois-Gruppe durch „Transformationen elliptischer Funktionen mit singulären Moduli“ erzeugt werden sollen. Hilbert interpretierte dies als Vermutung, dass sie durch Werte der j-Funktion in K erzeugt werden. Das war so aber nicht korrekt, man fand später als Gegenbeispiel Q((1+2i)1/4) als Erweiterung von Q(i).)
Die Bezeichnung „Klassenkörper“ (und die vermuteten Hauptsätze der Klassenkörpertheorie) stammten von Heinrich Weber, der in seinem 1891 erschienenen Lehrbuch Kroneckers Theorie anhand spezieller Beispiele sehr verständlich besprochen hatte. Der Name Klassenkörper bezog sich auf die Beziehung der Körpererweiterung L zu den Idealklassen des Körpers K.

In seinen beiden folgenden Arbeiten entwarf Hilbert das Bild der Klassenkörpertheorie, derzufolge alle höheren Reziprozitätsgesetze mit abelschen Erweiterungen von Zahlkörpern zu tun haben sollten, so wie Kummer Reziprozität mittels abelscher Erweiterungen der rationalen Zahlen – den Kreisteilungskörpern – interpretiert hatte. Laut Hilbert sollte der Klassenkörper L eines Zahlkörpers K eine Reihe von Eigenschaften erfüllen, u.a. sollte Gal(L/K) isomorph zur engen Klassengruppe sein, und L sollte alle unverzweigten abelschen Erweiterungen von K enthalten, auch sollte für Primideale p in K die Zerlegung in L nur von der Klasse von p in der Klassengruppe abhängen. Beweisen konnte er seine Theorie und die von ihm vermuteten Sätze – die Existenz des Klassenkörpers eines beliebigen Zahlkörpers und die sich ergebenden Reziprozitätsgesetze – aber nur in wenigen Spezialfällen.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:David_Hilbert_and_K%C3%A4the_Jerosch.png

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