In einem Brief an Borel hatte Serre vermutet, dass für jeden Divisor D die Dimensionen der Kohomologiegruppen endlich sind und oberhalb der Dimension der Mannigfaltigkeit verschwinden, damit also die Euler-Charakteristik definiert ist, und dass χ(M,D) nur von der Kohomologieklasse x des Divisors abhängt und sich aus x und den charakteristischen Klassen von M durch ein Polynom vom Grad 2n berechnen läßt, das nur von
und nicht von M und D abhängt.
Später hatte Serre vorgeschlagen, nicht nur Linienbündel (als Ersatz für Divisoren), sondern auch mehrdimensionale Vektorbündel zu betrachten um zu allgemeineren Theoremen zu kommen. Für ein allgemeines Vektorbündel E über einer Mannigfaltigkeit M kann man die Charakteristik χ(M, E) definieren durch . Zuvor hatte Hodge die Signatur als Euler-Charakteristik eines gewissen Bündels charakterisiert, womit Hirzebruchs Signatursatz also ein spezieller Satz über die Euler-Charakteristik eines Bündels wurde. Das war ein wichtiges Teilresultat für die Suche nach den richtigen Polynomen in charakteristischen Klassen, durch die sich χ(M,E) berechnen lassen sollte. Schon beim Beweis des Signatursatzes hatte Hirzebruch mit Hilfe kombinatorischer Manipulationen festgestellt, dass die gesuchten Polynome durch die bekannten Beispiele und ihr formales Verhalten eindeutig bestimmt waren, und er konnte sie auch angeben. Auf diese Weise hatte er die genaue Formulierung des Signatursatzes gefunden, deren Beweis dann aus Thoms Berechnung des Kobordismusrings folgte.
John Todd hatte 1937 herausgefunden, dass sich das arithmetische Geschlecht aus gewissen Klassen algebraischer Zykel berechnen läßt. (Sein Beweis beruhte allerdings auf einem unbewiesenen Lemma Severis.) Er war an einer expliziten Berechnung seiner Invariante gescheitert. Nachdem dann in den 40er Jahren Chern-Klassen definiert wurden, hatte ein Doktorand aus Kyoto, Shigeo Nagano, die Todd-Klassen Tn als Polynome in den Chern-Klassen ci ausdrücken können. Man hatte zum Beispiel . Allgemein konnte man die
für Geradenbündel als Koeffizienten der Potenzreihe
mit
bekommen und sie für höherdimensionale Bündel dann mit dem Spaltungsprinzip berechnen. Hirzebruch entwickelte nun einen Formalismus “multiplikativer Sequenzen” und bewies damit, dass für Bündel über komplex n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten χ aus Tn berechnet werden kann:
. Insbesondere, was keineswegs offensichtlich ist, ist das auf der rechten Seite stehende “Todd-Geschlecht” td(X) ganzzahlig und eine birationale Invariante algebraischer Varietäten.
Der Beweis dieser als Satz von Hirezebruch-Riemann-Roch bekannten Formel sah im Nachhinein sehr natürlich aus. Er hatte aber nur deshalb zum Ziel kommen können, weil er über die neuesten Informationen verfügte und sie sofort einsetzte. Grundlegendes technisches Hilfsmittel war die Garbentheorie einschließlich der Garbenkohomologie, die in den letzten Jahren einen Neuaufbau der komplexen Analysis und algebraischen Geometrie ermöglicht hatte. Um den Satz überhaupt nur formulieren zu können, benötigte man die von Cartan und Serre bewiesenen Endlichkeitssätze für Kohomologiegruppen, die erst im gleichen Jahr veröffentlicht worden waren. Hodges Verbindung zwischen Euler-Charakteristik und Signatur war auch erst zwei Jahre zuvor publiziert. Die Kobordismustheorie, die den ersten Beweis ermöglichte, war brandaktuell, ebenso Kodairas Resultat dass gewisse von Hodge betrachtete Mannigfaltigkeiten algebraisch sind. Selbst die recht naheliegende Äquivalenz der Begriffe Geradenbündel und Divisor war neu.
Der Beweis war nur möglich, weil alle auf diesem Gebiet wichtigen Mathematiker zumindest zeitweise in Princeton waren und dort intensiv zusammenarbeiteten. Auch wenn es durchaus Konkurrenz gab, hielt niemand Ergebnisse zurück, um als Erster ans Ziel zu kommen. Eigentlich bestand Hirzebruchs wichtigste Leistung im Zusammenfügen dieser aus unterschiedlichen mathematischen Kulturen stammenden Ansätze.
Mit Borel, der in seiner Dissertation einige Jahre zuvor die Kohomologie kompakter Gruppen berechnet hatte, wandte Hirzebruch seinen Satz an, um die charakteristischen Klassen homogener Räume zu bestimmen. Die Anwendung auf Fahnenmannigfaltigkeiten G/T lieferte beispielsweise die auf Hermann Weyl zurückgehende Formel für den Grad irreduzibler Darstellungen von G. Eine andere Anwendung war sein Proportionalitätsprinzip: wenn für zwei algebraische Mannigfaltigkeiten die Chern-Zahlen proportional sind, dann gilt das auch für die anderen charakteristischen Klassen, und die Mannigfaltigkeiten repräsentieren proportionale Elemente im Kobordismusring. Und analog zu den Anwendungen des klassischen Satzes von Riemann-Roch konnte Hirzebruch die Dimensionen der Räume automorpher Formen für kokompakte, diskrete Gruppen von Isometrien beschränkter symmetrischer Gebiete im Cn bestimmen. (Die Dimension läßt sich nämlich berechnen als Produkt der Euler-Charakteristik des zugehörigen Bündels mit dem arithmetischen Geschlecht des Quotientenraums.)
Mancher sah in diesem Resultat einen Abschluß der algebraischen Geometrie. Severi sagte, er der sein ganzes Leben der algebraischen Geometrie gewidmet habe, fühle sich jetzt schon im Paradies.
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