Es ist zwar kein wirklich runder Jahrestag, sondern nur der fünfundachtzigste, aber jedenfalls doch ein Anlaß um die seit kurzem auch online zur Verfügung stehende berühmte Radioansprache David Hilberts vom 8. September 1930 hier einzustellen.

Berühmt vor allem wegen der Schlußsätze: “Wir dürfen nicht jenen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem “Ignorabimus” gefallen. Für uns gibt es kein “Ignorabimus” und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaften überhaupt nicht. Statt des törichten “Ignorabimus” heiße im Gegenteil unsere Losung: wir müssen wissen, wir werden wissen.”

Philosophisches

Oft kolportiert wird, diesen Schlußatz habe Gödels Unvollständigkeitssatz dann wenige Monate später widerlegt. Viele Mathematiker sehen in dieser Interpretation eher eine philosophische Überhöhung eines mathematischen Sachverhaltes; empfehlenswert dazu das einigermaßen allgemeinverständliche Buch von Dirk Hoffmann, das wir hier mal rezensiert hatten.

(Fast) unstrittig ist aus heutiger Sicht sicher, dass zahlreiche Prozesse sich auf absehbare Zeit noch einer mathematischen Beschreibung entziehen werden. Zum Beispiel die Börse. Mit Gödel und der mathematischen “Grundlagenkrise” hat das freilich nichts zu tun.

Politisches

Auf einer ganz anderen Ebene ist Hilberts 1930 geäußerter Optimismus dann von den politischen Entwicklungen widerlegt worden, die (neben schwerwiegenderen Folgen) bekanntlich auch zum Niedergang “seines” mathematischen Instituts führten.

Die Geschichte des Göttinger Instituts in den 30er Jahren ist gut dokumentiert, sowohl in wissenschaftshistorischen Arbeiten wie auch im populärwissenschaftlichen Klassiker “Hilbert” von Constance Reid. Einer berühmten Anekdote zufolge soll Hilbert 1934 vom neuen Minister Rust gefragt worden sein, ob sein Institut denn wirklich „unter dem Weggang der Juden und Judenfreunde“ gelitten habe und er soll darauf geantwortet haben: „Das Institut – das gibt es doch gar nicht mehr!“. Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch durch historische Quellen belegt ist. Unstrittig ist aber, dass das Göttinger Institut in dieser Zeit einen beispiellosen Niedergang erlebte.
Selbst nach 1934 gab es noch massive Auseinandersetzungen zwischen einerseits Hasse, der unter Anerkennung der politischen Verhältnisse jedenfalls versuchte, die internationale Vernetzung der Göttinger Mathematik aufrechtzuerhalten, und andererseits Erhard Tornier, der mit Unterstützung der von Oswald Teichmüller angeführten Studentenschaft (die zum Beispiel durch Boykottaktionen 1933 Edmund Landaus Analysis-Vorlesung verhinderte und diesen zur vorzeitigen Pensionierung drängte) eine “Deutsche Mathematik” zu etablieren versuchte.

Viele der nach dem Krieg aktiven Mathematiker hatten in den 30er Jahren in Göttingen studiert und man fragt sich natürlich, wie diese im Nachhinein die damaligen Entwicklungen wohl gesehen haben werden. Im öffentlichen Diskurs, jedenfalls in dem, der sich in schriftlichen Quellen nachvollziehen ließe, scheint das nie diskutiert worden zu sein. Für dieses “Verschweigen” mag es in der Nachkriegszeit gute Gründe gegeben haben, für heutige Historiker wären die Berichte der damals als Studenten beteiligten Zeitzeugen aber sicher von Interesse gewesen.

Ein Interview in den Mitteilungen

Ein Interview mit dem wahrscheinlich letzten lebenden Zeugen der damaligen Ereignisse, dem 2015 verstorbenen Mathematiker Günter Pickert (Student in Göttingen von 1933 bis 1938) führten im vergangenen Jahr die Mitteilungen der DMV, in englischer Übersetzung erschien das Interview jetzt auch in den Notices of the European Mathematical Society. (Die deutsche Version ist hinter einer Bezahlschranke, die englische Übersetzung aber online.)

Leider liest man in diesem Interview nichts über die damaligen Ereignisse und Entwicklungen. Stattdessen werden frühere “Gegner” in Neben- und auch Hauptsätzen zu entglorifizieren versucht.
Das betrifft, wenig überraschend, in erster Linie David Hilbert, der sich als Ziel solcher “Kritik” wohl nicht zuletzt deshalb anbietet, weil er in späteren Erzählungen stets als Symbolfigur des 1933 untergegangenen Glanzes galt. Von Pickert also erfahren wir nun, dass Hilbert “keine imposante Figur wie zum Beispiel Heinrich Behnke” war, sein Auftreten durch seinen ostpreußischen Akzent “noch merkwürdiger” wirkte, er seinen Stand in der mathematischen Gemeinschaft nutzte, um seiner Axiomatisierung der Geometrie eine größere Wertschätzung zukommen zu lassen als der von Moritz Pasch, und dass er trockene Vorlesungen hielt, bei denen ihm Assistenten oft weiterhelfen mußten. (Zu den Vorlesungen ist zu sagen, dass Pickert Hilberts letzte Vorlesung im Jahr 1933 hörte, damals war Hilbert schon über 70 und Reids Biografie zufolge nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – 1934 unterschrieb er sogar ein Bekenntnis zu Hitler. Auch Hellmuth Kneser, auf den sich Pickert für die früheren Jahre beruft, hatte erst in den 20er Jahren Vorlesungen Hilberts gehört.)
Mag man solche Spitzen vielleicht noch als nicht notwendigerweise politisch motivierte Freude an der Demontage eines Denkmals ansehen, klingt die politische Motivation später im Interview dann doch sehr unmißverständlich durch, wenn etwa dem Anti-Nazi Lambacher nachgesagt wird, er habe seine “blütenweiße Weste” benutzt, um die Lizenz für das Lehrbuch “Lambacher Schweizer” zu beschaffen und sich als Koautor des “aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entfernten” Schweizer zu verewigen, obwohl er “zu dem berühmten Lehrwerk so gut wie nichts beigetragen” habe. (Die Geschichte ist frei erfunden, wie wir hier schon einmal erörtert hatten. Auch war Schweizer nie aus dem Schuldienst entfernt worden. Eigenartigerweise ist diese Geschichte in der englischen Übersetzung noch zugespitzt worden, dort heißt es über Lambacher: “He contributed nothing at all to the textbook mentioned above.”)
Besser als Hilbert und Lambacher kommt immerhin Helmut Hasse weg, dem Pickert lediglich nachsagt, er wäre später mit der Namensgebung des Hasse-Diagrams nicht mehr glücklich gewesen, obwohl er sich in den 30er Jahren mit “Verbandstheorie, wirklich reiner Verbandstheorie” beschäftigt habe. (Diese Einschätzung ist insofern bemerkenswert, als Hasses damalige Forschungsinteressen gut dokumentiert sind und hauptsächlich die Arithmetik von Funktionenkörpern betrafen. Anscheinend diskutierte er mit seinen Mitarbeitern und Studenten nicht über die Themen, die ihn tatsächlich beschäftigten.)

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Kommentare (10)

  1. #1 demolog
    7. September 2015

    Sie trieb die unausstehliche Konkurenz an. Die identitäre Konkurenz, die sich ergibt, wenn man sich gegenüberstehen sieht, aber dennoch fühlt, wie gleich man sei.
    Anstatt also im Gemeinsamen nach der (besten) Lösung zu suchen, wollte man sich erst neurotisch voneinander Abrgenzen. Und das geht eben neben der Identität auch über den Inhalt, wenn man diese beiden Sphären miteinander zu verbinden bereit sei (oder gefühlt gezwungen ist) – hier dann offenbar anhand einer vermeindlich “Deutschen Physik” oder eben desgleichen “jüdisch”.

    Allerdings habe ich neulich erst anhand schweifender Visionen festgestellt, warum man sich letztlich auch aus der Sache herraus (also dem Gegenstand selbst) uneinig sein konnte. Es gibt tatsächlich ein oberflächlich sehr unscheinbares Detail, an dem man wirklich bis in alle Teile jeder Wissenschaften uneins sein konnte. Solche Fragestellungen sind uns heute scheinbar völlig fremd, haben aber einen extrem entscheidenen Einfluß auf alle weiterführnder Strategie der Erforschung und Betrachtung des Gegenstandes. Die Unterscheidung zwischen unterschiedlicher “Physik” an entsprechender Kulturidentität ist “wissenschaftlich” gesehen nebensächlich. Sie betrifft mehr eine Art “Herangehensweise”, die aus vielen Bedingungen jeweils Sinn machen kann (oder eben nicht). Jede Strategie müsste, wenn sie hinreichend funktionierte, am Ende gleiche oder ungefähr gleich verlässliche Ergebnisse erzeugen.

    Ich bin aber nicht sicher, ob man das Kernproblem so einfach öffentlich aussprechen kann. Denn es gibt eines und es ist nu rerkennbar, wenn man die breite Problematik der Naturwissenschaften überblicken kann und zudem psychologisch ausreichend im Bilde sei.

  2. #2 rolak
    8. September 2015

    Oft kolportiert wird

    Yoda er ist?

    Ich kicher mir hier des clips wegen einen ab – immerhin kam ein Teil der Familie aus Ostpreußen…

  3. #3 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    Hilbert, war das nicht der Hotelmanager? Der mit dem ganz großen Hotel? Mit dessen riesigen Vermögen seine Urenkelin Paris jetzt rumprasst? :duckundwech:

  4. #6 Swanhild Bernstein
    9. September 2015

    Es ist schön ein David Hilbert auch mal als Menschen zu hören. Der Niedergang der Göttinger Mathematik ist eine Tragödie von der sich Deutschland bis heute nicht erholt hat.
    Viele wissen, dass es ein Courant-Institute gibt, wenige, dass es das auch in Göttingen hätte geben können, wenn nicht ideologische Verblendung alles zerstört hätte.
    Ein hervoragender Mathematiker ist auch keine eierlegende Wollmilchsau. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass seine Vorlesungen nicht “imposant” waren. Was ist das Problem?
    Auch Hilbert war eben nur ein Mensch. Trotzdem ist meiner Meinung nach der größte deutsche Mathematiker nach Gauss, viele Entwicklungen gehen auf Hilbert zurück und das muss man einfach anerkennen.
    Das Problem ist doch, dass wir heute glauben gute Wissenschaft muss eine gute Show sein. Eine gute Show ist nicht schlecht, aber eben auch nicht alles.

  5. #7 Thilo
    3. November 2015

    Besprechung im Zentralblatt:

    The article under review is an interview that Albrecht Beutelspacher and Günter Törner led with Günter Pickert shortly before his death. It first appeared in the ”Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung” and has now been translated into English.

    Günter Pickert studied mathematics at Göttingen from 1933-39, his advisor was Helmut Hasse. He then served as a First Lieutenant during the war. A relatively large part of the interview is devoted to his time as a prisoner of war, where he ran a camp university together with other officers. Later he worked at Tübingen and Gieß en, in 1955 he authored an at the time influential textbook on projective planes, and he also was of importance in Germany’s teachers education. The interview follows these lifelines and together with many anecdotes presents Pickerts views and positive or negative opinions about former colleagues and about teaching and learning of mathematics.

    The interview presents some parts of the history of mathematics from a nowadays unusual angle and one must say that at least some of the tellings are not in accordance with well-established historical studies.

    The history of the Göttingen Institute in the 1930s is by now well-documented, both in the history of science as in popular books like Constance Reid’s ”Hilbert”. A famous anecdote tells Hilbert to have been asked in 1934 by the new Minister Rust whether his institute really suffered ”under the departure of the Jews and their friends” and he is said to have replied: ”There is no longer an institute!”. We do not know if this conversation is supported by historical sources but it is undisputed that the Göttingen institute experienced an unprecedented decline in this period. Even after 1934 there were massive confrontations between Hasse, who (despite supporting nazism) tried to maintain the international network of Göttingen mathematics, and people like Tornier and Teichmüller, who with the support of the students tried to establish a ”German Mathematics”. Well-documented is the boycott of Edmund Landau’s 1933 Analysis lecture by the then freshmen, through which he was prematurely forced into retirement.

    It is clear that such developments, not at least the boycott of lectures, must have influenced any of the young students one way or the other. So it certainly comes as a surprise that the interview completely avoids to discuss these events and rather one is between the lines getting an impression of the 1930s as a time when otherwise suppressed parts of mathematics came into blossom. (For example Pickert asserts that ”at that time Hasse was basically concerned with lattice theory – plain lattice theory” though he later ”wasn’t very happy about [the Hasse diagram] named after him”. This assessment is noteworthy, as Hasses research interests of the time are well documented and were mainly about the arithmetic of function fields. One wonders whether with his remaining staff and students he could still discuss the problems that he actually worked about.)

    The reviewer found it a bit irritating that while political issues (including the events of war) are entirely taken out of discussion, on the other hand the interview is systematically trying to debunk all those mathematicians which seem not to have been on the (in the view of the authors) right side of the battle, often resorting to stories and rumors that have long been refuted by the history of mathematics. A typical example for this is how the history of the ”Lambacher Schweizer” is presented, a series of mathematics textbooks for high school students that over the last 70 years appeared in several hundred editions by a similar number of authors. The story told in this interview goes in short as follows: Wilhelm Schweizer, who had to leave school for political reasons after 1945, needed Theophil Lambacher, who had kept a clean sheet, to get a printing licence, Lambacher himself then ”did not contribute anything to the schoolbook mentioned above”. There is essentially nothing true to this story: it is not true that Schweizer had to leave school (it seems that the authors confuse Schweizer to Kuno Fladt, who was principal of the same school as Schweizer and who indeed was an active nazi and for this reason had to leave school for several years), it is not true that Lambacher was needed to get the printing license (in fact it were the allied officials who had asked Schweizer to develop new textbooks) and it is not true that Lambacher did not contribute to the new schoolbooks that Lambacher and Schweizer were writing together after the war on the basis of already existing books. (What is true is that from 1959 on Schweizer was the sole editor of the book series. This actually did not mean that he was authoring the books alone but rather that he was managing then dozens of authors.)

    One may have wished the authors had checked their stories against the existing sources, which are nowadays easily available e.g. through Wikipedia. And one may also have wished for a more careful translation of the original german interview. Comparing the two versions one sees that a number of sentences (including some negative comments about other mathematicians) got a sharpness after translation that they didn’t have in the untranslated version. In some occasions sentences completely changed their meaning after translation and some parts of the interview actually look like a superficially corrected machine translation, for example when the professional title Förster (german for forester) becomes translated as a name (Mr. Förster).

  6. […] Evelyn Lamb, sonst auf dem Blog der American Mathematical Society aktiv, veröffentlicht auf “undark” einen wohl auf einem Gespräch mit dem Mathematikhistoriker Siegmund-Schultze beruhenden Artikel A Math Lesson From Hitler’s Germany. Sie erinnert dort an die Geschichte des Mathematischen Instituts in Göttingen, das seit Gauss’ Zeiten als das Weltzentrum der Mathematik galt und dieser Position dann 1933 innerhalb kurzer Zeit verlorenging. (Interessanterweise, was im Artikel nicht erwähnt wird, nicht nur durch die Vertreibung der jüdischen Mathematiker, sondern weil auch eine Reihe eigentlich nicht betroffener bedeutender Mathematiker in diesem gleichgeschalteten Institut dann nicht mehr arbeiten wollte. Wir hatten dazu hier vor 2 Jahren mal geschrieben.) […]

  7. […] Aufmerksamkeit und Hilbert, der inzwischen auf der Höhe seines Ruhmes stand, wurde gebeten, seine berühmt gewordene Ansprache für das neue Medium des Rundfunks zu halten. Sie endete mit den Worten “Wir dürfen nicht […]