Ein klassisches Hilfsmittel in der algebraischen Geometrie von Kurven ist die Jacobi-Varietät. Aus dieser ergeben sich alle kohomologischen Informationen über die Kurve, aber man kann mit ihr geometrischer arbeiten als mit den Kohomologiegruppen. (Insbesondere in Weils Beweis der Riemann-Vermutung für Funktionenkörper, d.h. der Weil-Vermutung für Kurven, war die Jacobi-Varietät das zentrale Objekt des Beweises gewesen.) Die Jacobi-Varietät war das „Motiv“ der Kurve.
Grothendiecks ultimativer Traum waren die Motive, die gleichzeitig mit allen verschiedenen Kohomologie-Theorien für einen bestimmten Raum umgehen und insbesondere einen Morphismus entlang algebraischer Varietäten in Kern und Kokern aufbrechen sollen. Jede Rechnung in einer Kohomologietheorie sollte sich bereits für die Motive durchführen lassen.
Unter all den Dingen, die ich entdecken und ans Licht bringen durfte, erscheint mir diese Welt der Motive immer noch als die faszinierendste, am meisten mit Mysterium aufgeladene – der eigentliche Kern der tiefen Identität von „Geometrie“ und „Arithmetik“. Und das “Yoga der Motive”. . . Es ist vielleicht das mächtigste Werkzeug, das ich in dieser ersten Periode meines Lebens als Mathematiker freigelegt habe.
Entgegen dem, was in der gewöhnlichen Topologie passierte, findet man sich dort also vor eine beunruhigende Fülle verschiedener kohomologischer Theorien gestellt. Man hat den entschiedenen Eindruck (aber auf eine Art, die vage bleibt), dass jede dieser Theorien “dasselbe ist”, dass sie “dieselben Ergebnisse liefern”. Um diese Verwandtschaft dieser verschiedenen kohomologischen Theorien auszudrücken, formulierte ich den Begriff des „Motivs“, das zu einer algebraischen Varietät assoziiert ist. Mit diesem Begriff will ich nahelegen, dass es das “gemeinsame Motiv” (oder der “gemeinsame Grund”) hinter dieser Vielzahl von mit einer algebraischen Varietät assoziierten kohomologischen Invarianten ist, oder tatsächlich hinter allen a priori möglichen kohomologischen Invarianten.
Motive sollten die ultimative kohomologische Invariante werden. Sei X eine algebraische Varietät über einem algebraisch abgeschlossenen Körper k. Für jede Primzahl l, die char(k) nicht teilt, gibt die etale Kohomologie die l-adische Kohomologie H1ét(X;Zl). Wenn k ein Unterkörper von C ist, dann hat man einen Vergleichsisomorphismus Hi(X(C),Z)⊗Zl–>Hiét(X;Zl). Wenn char(k)>0, dann hat man keine natürliche ganzzahlige Kohomologie, die solche Isomorphismen gibt. Nur für i=1 hat man die Picard-Gruppe (die Gruppe der Grad-0-Linienbündel), die einem die Kohomologiegruppe H1ét(X,Zl) zurückgibt. Die Theorie der Motive soll eine solche nichtexistierende ganzzahlige Kohomologie ersetzen.
Der erste Schritt in der Definition von Motiven ist die Objekte einer algebro-geometrischen Kategorie, etwa glatter projektiver Varietäten über einem gegebenen Körper, zu behalten und die Morphismen durch die Korrespondenzen zu ersetzen, also Äquivalenzklassen von Zykeln in XxY. (Einem klassischen Morphismus entspricht sein Graph als Korrespondenz.) Damit werden die Morphismen zu einer additiven Gruppe. In Abhängigkeit von der gewählten Äquivalenzrelation bekommt man eine Kategorie von Motiven. Die feinste Äquivalenzrelation wäre rationale Äquivalenz, die gröbste (und gebräuchlichste) wäre numerische Äquivalenz. Direkte Produkte von Varietäten definieren ein Tensorprodukt. Der zweite Schritt ist dann die formale Konstruktion neuer Objekte, die “Stücke” von Varietäten sein sollen: Kerne und Bilder von Projektoren (Korrespondenzen p mit p2=p). In dieser Kategorie ist zum Beispiel P1 die Summe aus einem Punkt und einem Motiv, das man sich intuitiv als der affinen Gerade entsprechend denken kann. Der letzte Schritt der Konstruktion ist dann, alle Tensorprodukte (insbesondere auch mit negativen Exponenten) hinzuzunehmen. Diese abelsche Kategorie der Motive sollte der Rezipient einer universellen Kohomologietheorie sein.
Das Problem war, dass man so nur algebraische Zykel bekam und nicht die transzendenten Zykel, die einem für Varietäten über k=C von der algebraischen Topologie gegeben werden. Die Hauptfunktion der von Grothendieck formulierten Standardvermutungen war, diese Lücke zwischen algebraisch und transzendent zu überbrücken.
Auf der Kohomologie von nicht-singulären projektiven Varietäten (und allgemeiner von Kähler-Mannigfaltigkeiten) hat man drei Strukturen, aus denen sich die meisten ihrer kohomologischen Eigenschaften herleiten lassen: Poincaré-Dualität, schwerer Lefschetz-Satz und Hodge-Riemann-Relationen. Grothendieck erkannte 1968, dass man die Weil-Vermutungen zeigen könnte, wenn man diese drei Strukturen auch auf der Gruppe algebraischer Zykel modulo homologischer Äquivalenz in algebraischen Varietäten hat. (Daraus würde nämlich folgen, dass seine Kategorie der Motive eine halbeinfache abelsche Kategorie ist.) Diese drei sogenannten „Standardvermutungen“ postulierte er dann als den richtigen Weg zum Beweis der Weil-Vermutung. Sie entziehen sich freilich bis heute einem Beweis. (Bekannt waren sie damals schon für abelsche Varietäten in Charakteristik 0. Sie würden aus der Hodge-Vermutung folgen.)
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