Auf dem Internationalen Mathematikerkongress 1904 in Heidelberg hielt Julius König einen Vortrag, in dem er vermeintlich bewies, dass die Mächtigkeit des Kontinuums unter „den Alephs“ (den Ordinalzahlen) überhaupt nicht vorkommt und also das von Cantor als fundamentales Denkgesetz angesehene Wohlordbarkeitsprinzip falsch sei. Als Reaktion auf diesen in seiner Wirkung als „sensationell“ empfundenen Vortrag soll Cantor sich aufgewühlt und empört darüber gezeigt haben, dass man es gewagt hatte, seine (laut seiner Aussage von Gott übermittelte) Studie und das Wohlordnungsprinzip widerlegen zu wollen, aber auch darüber, dass seine Töchter und Kollegen die vermeintliche Widerlegung mitanhören mussten und die damit verbundene an ihm vollzogene Demütigung. Obwohl Zermelo einen Tag später schon demonstrierte, dass Königs Beweisführung falsch war, soll Cantor schockiert und verärgert verblieben sein und sogar begonnen haben, an seinem Glauben zu zweifeln. (Hinsichtlich der Reaktion Cantor liegen seitens der Teilnehmer des Kongresses aber auch abweichende Schilderungen vor. Auch ob Zermelo den Fehler schon am nächsten Tag fand, ist umstritten, andere meinen, Felix Hausdorff hätte den Fehler in Wengen gefunden, wo eine Reihe wichtiger Kollegen sich nach Heidelberg trafen. Eine kürzlich aufgefundene Postkarte Zermelos an Dehn legt jedenfalls nahe, dass Zermelo tatsächlich unmittelbar nach dem Kongreß den Fehler im Argument fand und jedenfalls ist aber Zermelo zweifellos durch Königs Vortrag in Heidelberg zur Beschäftigung mit der Wohlordbarkeit gekommen.)
Zermelo hatte in angewandter Mathematik und Physik promoviert und habilitert und vor allem über die Dynamik von Gasen und Flüssigkeiten gearbeitet. Unter dem Einfluß Hilberts befaßte er sich in Göttingen mit Grundlagenfragen. Fünf Wochen nach Königs Vortrag in Heidelberg bewies er in einem Brief an Hilbert den Wohlordnungssatz. Hilbert ließ diesen dann unmittelbar in den Mathematischen Annalen abdrucken. Der Beweis löste eine internationale Kontroverse aus. In den Mathematischen Annalen erschienen sechs den Beweis kommentierende Artikel, bis auf einen alle kritisch.
Zermelos Beweis beruhte auf einer Idee Erhard Schmidts, nämlich der Verwendung einer beliebigen Auswahlfunktion – später als „Auswahlaxiom“ zu den Axiomen der Mengenlehre hinzugenommen. Zu einer Zeit, als man oft von Funktionen als “Gesetze” sprach, und diese als irgendwie explizit gegeben gesehen wurden, fanden viele die Verwendung einer beliebigen Auswahlfunktion seltsam. (Sie war freilich stillschweigend schon in anderen Beweisen verwendet worden war, etwa wenn man verwendete, dass eine abzählbare Vereinigung abzählbarer Mengen abzählbar ist.) Die Auswahlfunktion gibt zu jeder Menge S ein g(S) in S. Im einfachsten Fall kann man die Abzählung s0=g(S),s1=g(S-{s0}), s2=g(S-{s0,s1}),… betrachten und bekommt so eine Wohlordnung. Natürlich muß im Allgemeinen die Menge S nicht abzählbar sein, aber jedenfalls gelang Zermelo mit einer komplizierteren Variante dieses Ansatzes der Beweis der Existenz einer Wohlordnung auch für nicht-abzählbare Mengen.
Zermelos Beweis blieb noch für lange Zeit umstritten, aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche wie die französischen Analytiker akzeptierten den Beweis und lehnten das Auswahlaxiom ab, bei anderen wie Poincaré und wichtigen deutschen Mathematikern war es umgekehrt. Einige akzeptierten seinen Artikel in Gänze, fanden es aber seltsam, dass es mit diesem Axiomensystem nach Cantor keine Menge aller Ordinalzahlen gäbe. Borel und seine Kollegen benutzten die Mengenlehre, hatten aber schon früher ein kritisches Verhältnis zur transfiniten Mengenlehre. Sie akzeptierten abzählbare Auswahlen, aber überabzählbare Auswahlen sahen sie ausserhalb der Mathematik. (Tatsächlich genügt das abzählbare Auswahlaxiom für zahlreiche Anwendungen in der Analysis.)
Zu dieser Zeit entwickelte Russell in Cambridge seine Typentheorie, in der Mengen stets einen höheren Typ als ihre Elemente haben. Mit diesem Ansatz wurden die für Antinomien verantwortlichen problematischen Mengenbildungen unmöglich. In den Principia Mathematica zeigte er später ein Stück der Leistungsfähigkeit der angewandten Typentheorie. Letztlich erwies sie sich aber als unzulänglich und konnte sich auch wegen ihrer Kompliziertheit nicht durchsetzen. Handlicher und erfolgreicher war dagegen die von Zermelo in den nächsten Jahren entwickelte axiomatische Mengenlehre, die er gezielt zur widerspruchsfreien Begründung von Cantors Mengenlehre schuf. Es wurde klar, dass das Auswahlaxiom, welches äquivalent zum Lemma von Zorn ist, als unabhängiges Axiom zur Mengenlehre hinzugefügt werden muß. Eine wichtige Anwendung (des Wohlordnungssatzes oder des Zornschen Lemmas, letztlich also des Auswahlaxioms) wurde der von Hamel, einem jungen Professor in Brünn, 1905 gefundene Beweis, dass die reellen Zahlen als Vektorraum über den rationalen Zahlen eine (überabzählbare) Vektorraumbasis besitzen. (Dasselbe Argument zeigt, dass jeder Vektorraum eine Basis besitzt.)
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