Die Mengenlehre entstand im 19. Jahrhundert aus der Beschäftigung mit pathologischen (reellen) Funktionen. Georg Cantor hatte 1869 zunächst bewiesen, dass die Fourier-Reihe einer Funktion eindeutig ist, wenn sie in allen Punkten gegen die Funktion konvergiert, und hatte sich dann der Frage zugewandt, welche Mengen an Ausnahmepunkten – in denen die Fourier-Reihe nicht gegen den Funktionswert konvergiert – zulässig wären, so dass die Eindeutigkeit der Fourier-Reihe immer noch bewiesen werden kann. Andere Analytiker befaßten sich später beispielsweise mit der Frage, auf was für einer Ausnahmemengen eine Funktion unstetig sein kann ohne ihre Integrierbarkeit zu verlieren.

In der Vergangenheit hatte die Unendlichkeit eher als ein Thema der Philosophie gegolten. Mathematiker wären nicht auf die Idee gekommen, verschiedene unendliche Mengen vergleichen oder unterscheiden zu wollen. Durch die Entwicklung der reellen Analysis und die Befassung mit Ausnahmemengen wurde nun aber klar, dass es durchaus unterschiedliche Unendlichkeiten gibt – der Begriff der Mächtigkeit einer Menge war geboren. Cantor bewies mit seinem Diagonalargument, dass die Mächtigkeit der reellen Zahlen größer ist als die der natürlichen Zahlen. Mit einer allgemeineren Variante des Diagonalarguments zeigte er dann, dass für jede Menge X die Mächtigkeit der Potenzmenge P(X) größer ist als die Mächtigkeit von X. Die Frage, ob es noch Mächtigkeiten zwischen denen von X und P(X) geben kann, wurde im Fall X=N („Kontinuumshypothese“) das erste der von Hilbert auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress 1900 in Paris vorgestellten 23 Probleme.

Cantors Mengenlehre wurde zu seiner Zeit von vielen Mathematikern abgelehnt, wenn auch eher aus ideologischen Gründen. Kronecker bezeichnete ihn als Verderber der Jugend, dessen Theorie Philosophie oder Theologie, jedenfalls keine Mathematik sei. Der einzige Mathematiker, der mit unendlichen Mengen wirklich arbeitete und rechnete, war Dedekind, der zum Beispiel unendliche Mengen für seine Definition der reellen Zahlen verwendete, das Rechnen mit Zahlenkongruenzen als Rechnen mit Mengen (Äquivalenzklassen) interpretierte, oder bspw. in der algebraischen Geometrie Mengen von Divisoren betrachtete.

Noch mehr geriet die Mengenlehre in Misskredit, als Antinomien bekannt wurden. Cantor zeigte, dass die „Totalität aller Alephs“, die Menge aller Mengen, keine Menge sein kann: andernfalls wäre ihre Potenzmenge eine Menge größerer Kardinalität, es würde also ein größeres Aleph geben, das als Element zu dieser Totalität gehören würde, obwohl es wegen der größeren Kardinalität nicht zu ihr gehören könnte. Diese eigentlich naheliegende Folgerung aus seinem Diagonalargument war ihm nicht von Anfang an bewußt gewesen. Poincaré spottete: „Die Logik ist gar nicht mehr steril – sie zeugt jetzt Widersprüche.“

Berühmt wurden diese Antinomien dann durch Russell, der damals begann, die Prinzipien der Mathematik – also die Herleitung der Mathematik aus der Logik – neu zu ordnen. Der erste Versuch, die gesamte Mathematik allein aus der Logik zu entwickeln – statt mathematische Grundlagen als “arithmetische Urteile a priori” oder durch Erfahrung bestätigte allgemeine Naturgesetze anzusehen – war der Logizismus Gottlob Freges gewesen. Mit seinem Paradoxon vom Barbier, der genau diejengen Männer seiner Stadt rasiert, die sich nicht selbst rasieren, widerlegte Russell den Logizismus Freges. Frege geriet durch Russell’s Entdeckung in eine schwere Krise und verfiel in jahrelange Depressionen.

Es gibt also Klassen, die keine Mengen sind, beispielsweise die Klasse der Ordinalzahlen oder die Klasse der Kardinalzahlen. Ordinalzahlen verstand man als Äquivalenzklassen wohlgeordneter Mengen und Kardinalzahlen als Äquivalenzklassen von Mächtigkeiten. Zwei Mengen heißen gleichmächtig, wenn es eine Bijektion zwischen ihnen gibt.

Als wohlgeordnet bezeichnet man eine geordnete Menge, in der jede Teilmenge ein kleinstes Element hat. (Dabei kommt es nicht darauf an, ob man dieses kleinste Element tatsächlich finden kann. Unter den Studenten im Hörsaal ist einer mit der kleinsten Anzahl von Haaren – auch wenn man ihn niemals finden wird. Mit diesem Beispiel erklärte Hilbert in seinen Vorlesungen das Wesen reiner Existenzbeweise.) Cantor ging davon aus, dass alle Mengen wohlgeordnet werden können, selbst wenn sie – wie etwa eine offene Teilmenge der reellen Zahlen – nicht a priori wohlgeordnet sind. Anscheinend sah er das als eine Grundtatsache an, die keines Beweises bedürfe.

Auf dem Internationalen Mathematikerkongress 1904 in Heidelberg hielt Julius König einen Vortrag, in dem er vermeintlich bewies, dass die Mächtigkeit des Kontinuums unter „den Alephs“ (den Ordinalzahlen) überhaupt nicht vorkommt und also das von Cantor als fundamentales Denkgesetz angesehene Wohlordbarkeitsprinzip falsch sei. Als Reaktion auf diesen in seiner Wirkung als „sensationell“ empfundenen Vortrag soll Cantor sich aufgewühlt und empört darüber gezeigt haben, dass man es gewagt hatte, seine (laut seiner Aussage von Gott übermittelte) Studie und das Wohlordnungsprinzip widerlegen zu wollen, aber auch darüber, dass seine Töchter und Kollegen die vermeintliche Widerlegung mitanhören mussten und die damit verbundene an ihm vollzogene Demütigung. Obwohl Zermelo einen Tag später schon demonstrierte, dass Königs Beweisführung falsch war, soll Cantor schockiert und verärgert verblieben sein und sogar begonnen haben, an seinem Glauben zu zweifeln. (Hinsichtlich der Reaktion Cantor liegen seitens der Teilnehmer des Kongresses aber auch abweichende Schilderungen vor. Auch ob Zermelo den Fehler schon am nächsten Tag fand, ist umstritten, andere meinen, Felix Hausdorff hätte den Fehler in Wengen gefunden, wo eine Reihe wichtiger Kollegen sich nach Heidelberg trafen. Eine kürzlich aufgefundene Postkarte Zermelos an Dehn legt jedenfalls nahe, dass Zermelo tatsächlich unmittelbar nach dem Kongreß den Fehler im Argument fand und jedenfalls ist aber Zermelo zweifellos durch Königs Vortrag in Heidelberg zur Beschäftigung mit der Wohlordbarkeit gekommen.)

Zermelo hatte in angewandter Mathematik und Physik promoviert und habilitert und vor allem über die Dynamik von Gasen und Flüssigkeiten gearbeitet. Unter dem Einfluß Hilberts befaßte er sich in Göttingen mit Grundlagenfragen. Fünf Wochen nach Königs Vortrag in Heidelberg bewies er in einem Brief an Hilbert den Wohlordnungssatz. Hilbert ließ diesen dann unmittelbar in den Mathematischen Annalen abdrucken. Der Beweis löste eine internationale Kontroverse aus. In den Mathematischen Annalen erschienen sechs den Beweis kommentierende Artikel, bis auf einen alle kritisch.

Zermelos Beweis beruhte auf einer Idee Erhard Schmidts, nämlich der Verwendung einer beliebigen Auswahlfunktion – später als „Auswahlaxiom“ zu den Axiomen der Mengenlehre hinzugenommen. Zu einer Zeit, als man oft von Funktionen als “Gesetze” sprach, und diese als irgendwie explizit gegeben gesehen wurden, fanden viele die Verwendung einer beliebigen Auswahlfunktion seltsam. (Sie war freilich stillschweigend schon in anderen Beweisen verwendet worden war, etwa wenn man verwendete, dass eine abzählbare Vereinigung abzählbarer Mengen abzählbar ist.) Die Auswahlfunktion gibt zu jeder Menge S ein g(S) in S. Im einfachsten Fall kann man die Abzählung s0=g(S),s1=g(S-{s0}), s2=g(S-{s0,s1}),… betrachten und bekommt so eine Wohlordnung. Natürlich muß im Allgemeinen die Menge S nicht abzählbar sein, aber jedenfalls gelang Zermelo mit einer komplizierteren Variante dieses Ansatzes der Beweis der Existenz einer Wohlordnung auch für nicht-abzählbare Mengen.

Zermelos Beweis blieb noch für lange Zeit umstritten, aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche wie die französischen Analytiker akzeptierten den Beweis und lehnten das Auswahlaxiom ab, bei anderen wie Poincaré und wichtigen deutschen Mathematikern war es umgekehrt. Einige akzeptierten seinen Artikel in Gänze, fanden es aber seltsam, dass es mit diesem Axiomensystem nach Cantor keine Menge aller Ordinalzahlen gäbe. Borel und seine Kollegen benutzten die Mengenlehre, hatten aber schon früher ein kritisches Verhältnis zur transfiniten Mengenlehre. Sie akzeptierten abzählbare Auswahlen, aber überabzählbare Auswahlen sahen sie ausserhalb der Mathematik. (Tatsächlich genügt das abzählbare Auswahlaxiom für zahlreiche Anwendungen in der Analysis.)

Zu dieser Zeit entwickelte Russell in Cambridge seine Typentheorie, in der Mengen stets einen höheren Typ als ihre Elemente haben. Mit diesem Ansatz wurden die für Antinomien verantwortlichen problematischen Mengenbildungen unmöglich. In den Principia Mathematica zeigte er später ein Stück der Leistungsfähigkeit der angewandten Typentheorie. Letztlich erwies sie sich aber als unzulänglich und konnte sich auch wegen ihrer Kompliziertheit nicht durchsetzen. Handlicher und erfolgreicher war dagegen die von Zermelo in den nächsten Jahren entwickelte axiomatische Mengenlehre, die er gezielt zur widerspruchsfreien Begründung von Cantors Mengenlehre schuf. Es wurde klar, dass das Auswahlaxiom, welches äquivalent zum Lemma von Zorn ist, als unabhängiges Axiom zur Mengenlehre hinzugefügt werden muß. Eine wichtige Anwendung (des Wohlordnungssatzes oder des Zornschen Lemmas, letztlich also des Auswahlaxioms) wurde der von Hamel, einem jungen Professor in Brünn, 1905 gefundene Beweis, dass die reellen Zahlen als Vektorraum über den rationalen Zahlen eine (überabzählbare) Vektorraumbasis besitzen. (Dasselbe Argument zeigt, dass jeder Vektorraum eine Basis besitzt.)

In Zermelos Axiomensystem der Mengenlehre fehlte noch das Ersetzungsaxiom, dessen Notwendigkeit erst 1921 Abraham Fraenkel bemerkte. Es besagt anschaulich, dass Bilder von Mengen ebenfalls Mengen sind. Fraenkel wurde durch die Entdeckung dieses Axioms gemeinsamder mit Zermelo zum Namensgeber des neuen Axiomensystems. Zermelo konzipierte das Axiomensystem ursprünglich auch für Urelemente, die keine Mengen sind, aber als Mengenelemente in Frage kommen und Cantors „Objekte unserer Anschauung“ einschließen. Etablieren würde sich aber die Mengenlehre nach Fraenkels Vorstellung als eine reine Mengenlehre, deren Objekte ausschließlich Mengen sind. Das für den Beweis des Wohlordnungssatzes benötigte Auswahlaxiom wurde kein Bestandteil der ZF-Mengenlehre, die gesamte heutige Mathematik baut aber auf ZFC (Zermelo-Fraenkel+Auswahlaxiom) auf.

Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernst_Zermelo_1900s.jpg

Kommentare (4)

  1. #1 Frank Wappler
    12. Dezember 2019

    Thilo schrieb (12. Dezember 2019):
    > [… Bertrand Russells] Paradoxon vom Barbier, der genau diejengen Männer seiner Stadt rasiert, die sich nicht selbst rasieren

    Unter den Männern üblicher Städte wird ja stattdessen derjenige als “Barbier” bezeichnet, der sich selbst rasiert und außerdem genau alle diejenigen anderen, die sich nicht selbst rasieren;
    womit er sich auch von demjenigen (“Bestatter” genannten) Mann unterscheidet, der sich zwar nicht selbst bestatten würde, aber genau alle diejenigen anderen, die sich nicht selbst bestatten würden.

    p.s.
    > Die Auswahlfunktion gibt zu jeder Menge S ein g(S) in S. Im einfachsten Fall kann man die Abzählung s0=g(S),s1Og(S-{s0}), s2=g(S-{s0,s1}),…

    Auch hinter diesem unerwarteten Ausdruck steckt womöglich nur eine schlichte Verwechslung: “O” statt “=”,
    vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Deutsche_Tastaturbelegung_T1_nach_DIN_2137-01–2018-12.png

    p.p.s. — ScienceBlogs-Kommentar-HTML-Test:

    “s<sub>0</sub>” wird dargestellt als: “s0”.

  2. #2 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/
    13. Dezember 2019

    Off-topic, aber in diesem Blog sind immer so wenige Kommentare – auch ich habe on-topic fast nie etwas beizutragen.

    Eine Videoempfehlung habe ich zu machen: Eric Weinstein (nicht zu verwechseln mit Bret Weinstein, der im Zusammenhang mit dem “Day of Absence” eine gewisse Bekanntheit erworben hat – dies hier ist sein Bruder und vor allem nicht mit dem MeToo-Beschuldigten Weinstein) mit Sam Harris. Besonderheit: Als Dekoration, die erst ganz zum Ende erwähnt wird, stehen 2 oder 3 Kleinsche Flaschen herum sowie 3 kleine 3-D-Modelle von Figuren des 4-dimensionalen Raums.
    Davon verstehe ich auch zu wenig, um darüber zu diskutieren – die Anmerkungen habe ich so verstanden, dass die Kleinschen Flaschen auch als 3-dim.Abb. von 4-dim. Figuren aufgefasst werden können.

  3. #3 Thilo
    13. Dezember 2019

    2:33:40 sind leider doch etwas zu lang um mir das Interview mal zwischendurch reinzuziehen. Aber danke für den Hinweis.

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