Auch eine Krise der mathematischen Bildung will die FAZ in der Corona-Epidemie ausgemacht haben. Entscheidungsträger würden “vom Fluch der großen Zahlen” getrieben und “vorrangig von der Angst bestimmt, […] für Tote verantwortlich gemacht [zu] werden”. Dagegen freuten sich “die Mathematiklehrer der Republik”, denn hier sähe man “eine exponentielle Funktion”:
Da jeder Infizierte mehrere andere Menschen ansteckt, explodieren die Zahlen der Angesteckten in schönen Mustern, die man zeichnen und in Exponentialfunktionen abbilden kann.
In dem wirren und unstrukturierten Artikel wird dann weiter (sinngemäß) argumentiert, Schüler würden im Schulunterricht nur den Umgang mit Zahlen lernen, nicht aber deren Interpretation. Dementsprechend zeichneten Politiker nur Exponentialkurven, wüßten aber nicht, was diese bedeuten.
Die mit viel Pathos (und wenig Fakten) angereicherte Argumentation fällt hier freilich auf den Autor zurück. Gerade die von ihm unterschwellig oder direkt vorgebrachten Argumente zeigen, dass man Zahlen auch verstehen und nicht nur auf Grundschulniveau verarbeiten muss.
Es ist eben nicht der springende Punkt, dass es bisher in diesem Jahr weniger Tote gab als in einer durchschnittlichen Grippesaison. (Was der Autor zwar nicht explizit behauptet, aber mit entsprechenden Fragen insiniuiert, und was rein mathematisch ja auch korrekt ist.) Auch sonst handelt es sich bei den vom Autor mit der Attitüde des Erstentdeckers vorgetragenen Einwänden und Allgemeinplätzen um Dinge, die in den letzten Tagen schon tausendfach diskutiert wurden. Etwa der im letzten Absatz vorgebrachte (und auch semantisch fehlerhaft strukturierte) Einwand
ob es langfristig nicht billiger ist, ein paar mehr Intensivbetten vorzuhalten, als aus Angst vor kollabierenden Krankenhäusern lahmzulegen
geht ziemlich am Punkt vorbei. Mal abgesehen davon, dass nicht Betten sondern Beatmungsgeräte fehlen, benötigt man ja in jedem Fall auch Personal, das für die Beatmung nicht nur formal ausgebildet ist, sondern darin auch über lange Erfahrung und regelmäßige Praxis verfügt. Unsachgemäße (und selbst sachgemäße) Beatmung führt bekanntlich oft zu bleibenden Schädigungen. Aus Sicht der FAZ aber alles nur eine Krise der „mathematischen Bildung erster Ordnung“ und des Fehlens einer Bildung zweiter Ordnung.
Es lässt sich immerhin feststellen, dass das Maximum spätestens bei 83 Millionen erreicht ist, dann sind eben alle infiziert. Mathematische Bildung zweiter Ordnung fängt aber erst nach dem Zeichnen der Kurve an. Die Kernfrage ist nämlich nicht, wie steil die Kurve verläuft oder wo das Maximum liegt. Die Kernfrage ist: Welches Problem beschreibt die Kurve? Es gibt viele Viren und Bakterien, bei denen die Durchseuchungsrate der Bevölkerung hundert Prozent beträgt. Die Infektionsrate ist also gar nicht die zentrale Frage. Zu fragen ist, ob es eigentlich schlimm ist, wenn viele Menschen mit Corona infiziert sind.
Das ist zweifellos die Frage und der Autor hätte nur ein beliebiges Medium einschalten müssen um sie diskutiert zu sehen.
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