Ein schier unglaublicher Fall von Wissenschaftsbetrug ist jetzt bei der Elsevier-Zeitschrift “Journal of Mathematical Analysis and Applications” aufgeflogen:

Dieser Artikel wurde auf Bitte des leitenden Herausgebers zurückgezogen. Ein Gutachten, auf dessen Grundlage die redaktionelle Entscheidung getroffen, hat sich als gefälscht herausgestellt. Das Gutachten wurde unter dem Namen eines etablierten Wissenschaftlers, der von der Arbeit und dem Gutachten nichts wußte, über einen fiktiven EES-Account eingereicht. Wegen der Vorlage eines gefälschten, aber gut geschriebenen und positiven Gutachtens, akzeptierte der Herausgeber die Arbeit irrtümlich auf der Grundlage der positiven Empfehlung von einem seiner Meinung nach bekannten Experten in diesem Gebiet. Dies stellt einen klaren Verstoß gegen die Grundlagen des Peer-Review-Verfahrens, unsere Veröffentlichungspolitik und die ethischen Standards des Publizierens dar.

(Übersetzung aus dem Original)

Es geht um die Arbeit “Sasaki–Randers metric in Finsler geometry” der iranischen Wissenschaftler Peyghan und Tayebi.
EES ist das Elsevier Editorial System, mit dem Elsevier den Pool seiner potentiellen Gutachter verwaltet. Herausgeber können sich dort einen Gutachter heraussuchen, der zum Thema der jeweiligen Arbeit paßt und zum Beispiel kontrollieren, dass dieser kein früherer Koautor der zu begutachtenden Autoren ist.
Phishing Accounts kennt man ja sonst eher aus dem Online-Banking, jetzt also auch im Publikationswesen.
(Laut ArXiv finden sich unter den Arbeiten der beiden Autoren übrigens auch noch zwei Plagiatsfälle. (Korrektur: bei näherer Betrachtung stellen sich diese als recht harmlos heraus, es geht wohl nur um 5 Zeilen, die übernommen wurden. Siehe Kommentare unten.) Und man fragt sich natürlich, warum eine dem Titel nach offenkundig differentialgeometrische Arbeit eigentlich in einer Zeitschrift zur angewandten Analysis veröffentlicht werden sollte.)

via Rank Zero

Nachtrag: Bei Retraction Watch wurde das Thema auch schon behandelt. Demzufolge hat es noch bei einer anderen Arbeit derselben Autoren (“Complex Bogoslovsky Finsler Metrics”) in derselben Zeitschrift einen gefälschten Report gegeben und ebenso beim “Journal of Geometry and Physics”, hier ging es um die Arbeit “On two subclasses of (α,β)-metrics being projectively related” von den gleichen Autoren.

JMAA-herausgeber Goong Chen betont einerseits “There is not yet absolute evidence that those authors themselves wrote and submitted the peer reviews themselves.” erwähnt aber andererseits: “This is not an isolated incident. Elsevier’s publisher and several journal editors discovered those authors’ tracks through submissions/publications to several Elsevier journals.” Die beiden Autoren scheinen die Gelegenheit zur Stellungnahme bisher nicht genutzt zu haben, obwohl der Artikel bei Retraction Watch schon Ende September erschienen ist.

Kommentare (17)

  1. #1 Joseph Kuhn
    4. November 2012

    Sehr interessant. Weißt Du, ob die Arbeit “nur” auf betrügerischem Wege eingereicht und gedruckt worden ist, oder ob sie auch inhaltlich so fehlerhaft ist, dass eigentlich absehbar war, dass der Betrug irgendwann auffliegen muss?

  2. #2 Hanno
    4. November 2012

    Also diese Geschichte sollte man jedem um die Ohren hauen, der erzählt, wir brauchen die Wissenschaftsfachverlage und teure Abopreise für ein adäquates Peer Review.

  3. #3 rolak
    4. November 2012

    “nur” der Weg oder auch der Inhalt?

    Aber Joseph, das kann doch dar laiigste Laie binnen ein, zwei Augenblicken selbst überprüfen 😉
    Es erscheint mir allerdings unlogisch, ein solch aufwendiges Betrugsverfahren zu inszenieren (ist ja nicht wie Phishing nach den Bankdaten von Random J Surfer) um dann einen offensichtlichen Fake zu platzieren. Analog in etwa zu: Wenn ich vermittels eines supertollen Tricks möglichst unauffällig einen Rembrandt aus dem Museum entwenden will, dann hinterlasse ich als Ersatz eine zumindest den üblichen Sichtkontrollen standhaltende Fälschung und nicht ein Scribble vom letzten Kindergeburtstag.

  4. #4 Joseph Kuhn
    5. November 2012

    @ rolak: Als absolutallerlaiigster Laie scheitere ich schon beim Versuch, den Artikel aufzurufen. Ich komme nur bis zur Rückrufmeldung.

    Aber ich will ihn gar nicht lesen. Mich hätte nur interessiert, wie der Vorgang einzuordnen ist, eher in die “Mathgen”-Rubrik (hier unter Zuhilfenahme eines gefakten Reviews), oder eher in die Rubrik schlichter Wissenschaftsbetrug (so habe ich Thilo verstanden)?

  5. #5 rolak
    5. November 2012

    Huch, das ist merkwürdig – eben gings noch direkt, dann eben jetzt indirekt (der dort verlinkte 374KiB pdf). Doch Du brauchst selbstverständlich nicht zu klicken, Joseph…
    Dann haben wir Thilo gleich verstanden, zumindest wenn ‘schlicht’ für ‘und sonst nichts’ steht und nicht als Ersatz für ‘simpel’.

  6. #6 Thilo
    5. November 2012

    @ Joseph Kuhn: Die Arbeit wurde ja zurueckgezogen und findet sich auch sonst nirgendwo im Netz. Man findet aber andere Arbeiten derselben Autoren (die nebenbei bemerkt sehr produktiv zu sein scheinen, ca. 40 Arbeiten in 5 Jahren sind in der Mathematik wirklich ungewoehnlich) und die Arbeiten sind eigentlich ganz normale Mathematik, wenn auch zum Teil recht kurz und ziemlich rechenlastig.

  7. #7 rolak
    5. November 2012

    Ist zwar wegen des ‘retracted’-Stempel partiell unlesbar, doch vorsichtshalber habe ich das Teil mal sicherheitskopiert, falls irgendwann irgendwer mal Interesse haben sollte.

  8. #8 S. Bernstein
    5. November 2012

    Also aus meiner Sicht ergeben sich hier mehr Fragen als der Beitrag antworten gibt.
    Was ist denn eigentlich bewiesen? Wer hat das System gehackt? Ist es denn klar, dass der “etablierte Wissenschaftler” wirklich nicht beteiligt war?
    Oder ist es u.U. auch nur ein Versuch sich an Elsevier zu “rächen”?
    Ein text overlap im arxiv überzeugt mich nicht von einem Plagiat, wobei es in einem Fall sogar ein “Eigenplagiat” wäre.

  9. #9 Thilo
    5. November 2012

    @ rolak: Oh, das war aber gut versteckt. Jetzt hab’ ich’s aber auch gefunden.

    @ S.Bernstein: “Bewiesen” ist, dass der vorgebliche Gutachter sagt, er habe das Gutachten nicht geschrieben. Ich sehe eigentlich keinen richtigen Grund, warum er luegen sollte. Andererseits sehe ich, nachdem ich dank Rolaks Hinweis jetzt die urspruengliche Arbeit gelesen habe, auch aus Sicht der Autoren keine wirkliche Notwendigkeit, das Gutachten auf diese Weise zu bekommen, denn es handelt sich ja dem ersten Anschein nach doch eigentlich um eine ganz normale, durchschnittliche Veroeffentlichung. Schon ziemlich mysterioes. Jedenfalls ist der (von wem auch immer durchgefuehrte) Hack eines Gutachter-Accounts etwas Noch-nicht-dagewesenes.

  10. #10 Thilo
    5. November 2012

    Das mit dem Text-Overlap auf dem ArXiv ist wohl tatsaechlich eher harmlos. Jedenfalls habe ich bei einem kursorischen Vergleich von https://arxiv.org/pdf/1003.2518v1.pdf mit dem Vorgaenger https://www.mathem.pub.ro/proc/bsgp-11/0ANAST02.PDF nur den ersten Abschnitt von Kapitel 2 gefunden, der woertlich uebereinstimmt. Da es sich dabei um die Einfuehrung von Standardnotation handelt, ist das wohl nicht weiter ungewoehnlich und insofern sollte man wohl von keinem Plagiat sprechen.

  11. #11 Thilo
    5. November 2012

    Nachtrag: Bei https://retractionwatch.wordpress.com/2012/09/24/iranian-mathematicians-latest-to-have-papers-retracted-for-fake-email-addresses-to-get-better-reviews/ wurde das Thema auch schon behandelt. Demzufolge hat es noch bei einem anderen Artikel derselben Autoren (“Complex Bogoslovsky Finsler Metrics”) bei derselben Zeitschrift einen gefaelschten Report gegeben und ebenfalls beim “Journal of Geometry and Physics”, hier ging es um die Arbeit “On two subclasses of (α,β)-metrics being projectively related” von den gleichen Autoren.

    JMAA-herausgeber Goong Chen betont einerseits “There is not yet absolute evidence that those authors themselves wrote and submitted the peer reviews themselves.” erwaehnt aber andererseits auch: “This is not an isolated incident. Elsevier’s publisher and several journal editors discovered those authors’ tracks through submissions/publications to several Elsevier journals.” Die beiden Autoren scheinen die Gelegenheit zur Stellungnahme bisher nicht genutzt zu haben, obwohl der Artikel bei Retraction Watch schon Ende September erschienen ist.

  12. #12 Thilo
    5. November 2012

    Auch bei CHE soll es einen Artikel dazu geben, den ich aber wegen Paywall nicht lesen kann: https://chronicle.com/article/Fake-Peer-Reviews-the-Latest/134784/

  13. #13 Thilo
    5. November 2012

    Noch die Links zu den beiden anderen zurueckgezogenen Arbeiten: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0022247X12001254 und https://adsabs.harvard.edu/abs/2012JGP….62..292T

  14. #14 rolak
    5. November 2012

    hmmm, jetzt mal ganz ohne erkennbaren Realitätsbezug: Wäre doch ein 1A-VT-MadScientist-plot, diverse kleine Arbeiten, alle mit einem raffiniert versteckten winzigen Fehler, am peer-review vorbei in die Publikation zu drücken. Um dann letztendlich ein für mich nicht ausmalbares, grotesk bösartiges Komplott durchzuziehen zu können, weil die besagten, dafür grundlegenden papers jetzt anerkannt sind und keiner mehr meckern kann.

    Hey, da fällt mir doch tatsächlich eine ungemein einträgliche Gaunerei ein mit Option zur Weltherrschaft, die nach diesem Szenario lässig umgesetzt werden könnte: (moment, es klingelt gerade, gleich erzähle ich weit

  15. #15 S. Bernstein
    5. November 2012

    @Thilo Vielen Dank für die weiteren Informationen.

    Interessant ist aber schon die Frage was ausgerechnet diese Autoren so interessant macht, dass gehackt wird.

    Zum anderen ist es eben wie mit allem im Internet, es wird gehackt was gehackt werden kann und das ist eigentlich traurig.

  16. #16 Joseph Kuhn
    10. November 2012
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