Gauß, Kehlmann, Kafka, die Vermessung des Königreichs Hannover und Krümmung von Dreiecken.

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Heute und nächste Woche soll es um Krümmung gehen.
Krümmung von Flächen wurde zum ersten Mal 1828 in Gauß’ “Disquisitiones generales circa superficies curvas” behandelt. (Zur Krümmung von Kurven gibt es natürlich ältere Arbeiten.)

Ich habe mich nicht mit Gauß’ Biografie befaßt und kenne deshalb nur ungefähr die Entstehungsgeschichte der “Disquisitiones”. Jedenfalls hat Gauß ab 1818 das Königreich Hannover vermessen (vgl. das Netzbild rechts unten auf dem 10-Mark-Schein)

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und sich in dem Zusammenhang mit gekrümmten Flächen beschäftigt. (Sein Buch bildet bis heute die Grundlage der Differenzialgeometrie, auch wenn er selbst wohl auf seine differenzialgeometrischen Arbeiten weniger stolz war als auf seine zahlentheoretischen.)

Eine einfache (und sicherlich vor Gauß bekannte) Beobachtung ist, daß die Innenwinkelsumme eines Dreiecks auf der Erde etwas größer als 180 Grad ist, wobei der genaue Unterschied von der Krümmung und der Größe des Dreiecks abhängt.

Bei sehr großen Dreiecken ist das besonders leicht zu sehen:
– zum Beispiel wenn man zwei gegenüberliegende Punkte auf dem Äquator und als dritten Punkt den Nordpol nimmt, dann hat das Dreieck zwei rechte Winkel, und der Winkel beim Nordpol hat 180o, die Innenwinkelsumme beträgt also 360o.
– oder wenn man zwei Punkte auf dem Äquator hat, die einen Viertelkreis einschließen (und als dritten Punkt wieder den Nordpol), dann hat man drei rechte Winkel, also Summe 270o.

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Das hat Gauß dann dazu gebracht, sich Gedanken über eine mathematische Definition von Krümmung zu machen. (Krümmung von Kurven war schon früher berechnet worden, z.B. bei Newton. Aber hier geht es um Krümmung von Flächenstücken.)

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: die Innenwinkelsumme eines sphärischen Dreiecks beträgt genau 180o+KA, wobei K die Krümmung und A der Flächeninhalt des Dreiecks ist. (Hier geht es um sphärische Dreiecke, also um konstante Krümmung.)
Das ist ein Spezialfall einer heute als Gauß-Bonnet-Theorem bekannten Formel.

Der (verstorbene) Bochumer Mathematiker Reinhold Böhme schreibt dazu auf seiner Vorlesungs-Webseite zur Geschichte der Erdvermessung und Geometrie:

Gauß hat für den König von Hannover und für unseren 10-Mark-Schein dessen Königreich zwischen 1818 und 1827 alle Sommer wieder weiter genau vermessen, und den ,,geodätischen Zusammenhang” zwischen der dänischen und der französischen Landvermessung beigesteuert, (,,geodetic connection” ist heute ein fundamentaler Begriff der Differentialgeometrie, und er besagt eigentlich genau dieses). In seine Hauptarbeit über Differentialgeometrie ,,Disquisitiones generales circa superficies curvas” (1828) hat er seine Erfahrungen bei der Landvermessung eingebracht, und hat als Hauptsatz im Kapitel XIX sein ‘theorema elegantissimum’ beiwiesen, daß eben auf jeder krummen Fläche (etwa auch auf dem Erdellipsoid) die Winkelsumme im Dreieck einen Korrekturterm wie ,,Krümmung mal Flächeninhalt” bekommen muß. Als Beispiel rechnet er das bei weitem größte Dreieck seiner Landvermessung im vorletzten, im XXIX Kapitel vor, und zeigt, welche Änderung die gemessenen Winkel in seiner ebenen Karte des Landes bekommen müssen:

,,[…] calculus sequentes reductiones angulis applicandas prodidit”:

Hoher Hagen … 4”,95113,
Brocken … 4”,95194,
Inselsberg … 4”,95131.

Ich selber war als Student einen Sonntagnachmittag mit dem Fahrrad auf dem Hohen Hagen. Dort steht ein moderner Fernseh-Turm und ein Aussichts-Turm der Jahrhundertwende. Darin ist ein kleines Museum für C.F. Gauß (1777 – 1855). Dort sind die Instrumente seiner Zeit zu sehen und Kopien seiner Protokolle. Er hat die Winkelsumme für dieses Dreieck immer wieder gemessen, und zuletzt eine Fehlerrechnung dafür gemacht (welche er – wohl dafür – erfunden hat), und er war erkennbar zufrieden, daß er mit 180o Ergebnis davon kam. Damals hatte ich geglaubt, daß Gauß die Relativitätstheorie geahnt haben mag. Aber es ist nicht so ganz plausibel. Gauß war sehr gründlich, vielleicht wollte er nur seine Fehlerrechnung testen, vielleicht auch wissen, ob die 6 Stellen seiner Rechnung oben ‘calculus prodidit’ überhaupt vernünftig sind. Jedenfalls hat er wohl genausowenig wie vor ihm (1783) Immanuel Kant geglaubt, daß er ‘das Resultat 180o‘ schon vorher glauben müsse. Der Krümmungsterm, welcher in der Maßebene die Lichtstrahlen stören kann, ist nicht die Krümmung der Erde sondern die Krümmung des umgebenden Raumes. Die Formeln sind aber genau dieselben. Heute heißt der allgemeine Satz der Satz von C.F. Gauß und P.O. Bonnet (1819 – 92). Die Winkelsumme in der Maßebene ist immer 180o; wenn man den Theodoliten genau in die Horizontale schwenkt, bekommt man (wie Gauß oben) eine größere Winkelsumme als 180o.

Also, Krümmung hat zu tun mit der Abweichung der Innenwinkelsumme von 180o. Das ist natürlich noch keine formale Definition. Zu dieser kommen wir nächste Woche.

Bekanntlich wird Gauß’ Vermessung des Königsreich Hannover ja auch in Daniel Kehlmanns “Vermessung der Welt” beschrieben. Weniger bekannt ist vielleicht, daß Kehlmanns Beschreibung von Gauß’ Tätigkeit als Landvermesser stellenweise stark an Franz Kafkas “Das Schloß” angelehnt ist. Während Kafkas Hauptfigur K. es aber letztlich nicht schafft, seine Arbeit als Landvermesser tatsächlich aufzunehmen, gelingt es Gauß trotz (oder wegen?) seiner fehlenden sozialen Intelligenz, seine Arbeit durchzuführen:
“Er sei Leiter der staatlichen Meßkomission, und wenn man ihn von der Schwelle weise, kehre er in Begleitung wieder. Ob man ihn verstehe?
Der Diener trat einen Schritt zurück.
Ob man ihn verstehe?
Jawohl sagte der Diener.
Jawohl, Herr Professor!
Herr Professor, wiederholte der Diener.
Und jetzt wünsche er den Grafen zu sehen.”

Der Literaturhistoriker Gunther Nickel schreibt dazu: “Kehlmann treibt das so erst begonnene Spiel mit Kafkas Landvermesser K. und dem Landvermesser G. auf abgründige Weise weiter, indem er dem Leser zu verstehen gibt, was sein Gauß nicht bemerkt: Graf von der Ohe zur Ohe ist bei ihm nichts Geringeres als eine Inkarnation Gottes. Genauso, als göttliche Instanz, interpretierte die frühe Kafka-Forschung den Grafen in Kafkas Roman, den K. nie zu Gesicht bekommt, dessen Schloß ihm noch nicht einmal zu betreten gelingt. Kehlmanns Gauß ist mithin K.s andere Möglichkeit. Im Ergebnis läuft das jedoch für beide auf das Gleiche hinaus, denn Gauß spricht zwar mit dem Grafen, aber er erkennt seine wahre Identität nicht.
(aus: Gunther Nickel: “Von Beerholms Vorstellung zur Vermessung der Welt”)

Noch am Rande: es ist ja gelegentlich über die historische Authentizität von Kehlmanns Roman diskutiert worden. Zum Kapitel über die Arbeit als Landvermesser (genauer: zu Gauß’ Darstellung in Briefen, auf der das Kapitel bei Kehlmann beruht) gibt es eine Gegendarstellung des Urenkels des Grafen von der Ohe zur Ohe, laut der sein Urgroßvater viel kultivierter gewesen sein soll als dargestellt.

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