Kann man gleichzeitig offen und abgeschlossen sein?

Gestern bin ich bei Ars Mathematica über einen Link zu einem parodistischen YouTube-Video über, sagen wir, Grundlagen der mengentheoretischen Topologie, offene und abgeschlossene Mengen, gestoßen. Über offene und abgeschlossene Mengen zu schreiben bietet sich heute noch aus einem anderen Grund an, denn heute ist der 70. Todestag von Felix Hausdorff, auf den unter anderem die heute gebräuchlichen grundlegenden Definitionen der Topologie zurückgehen. (Der Artikel über Hausdorff ist bei Wikipedia heute übrigens Artikel des Tages und in Bonn findet morgen ein Hausdorff-Gedenk-Kolloquium statt.)

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Hausdorff war seit 1921 Professor in Bonn gewesen, vorher seit 1913 in Greifswald. Er starb vor 70 Jahren keines natürlichen Todes, sondern nahm sich am 26.1.1942 wegen der bevorstehenden Deportation das Leben.
Er hat natürlich viele Beiträge zur Mathematik (und auch zu anderen Gebieten, er war habilitierter Astronom und unter dem Pseudonym Paul Mongré philosophischer Literat) geleistet, aber am bekanntesten ist er heute wohl für die Grundlagen der (mengentheoretischen) Topologie, also die Definition des topologischen Raumes über ‘offene Mengen’ (die bei ihm noch ‘Gebiete’ hießen).

Die Bezeichnung “offene/abgeschlossene Menge” dürfte sich später aus den Begriffen “offenes/abgeschlossenes Intervall” entwickelt haben (vermute ich nur), jedenfalls kann man die Bezeichnung didaktisch mit offenen/abgeschlossenen Intervallen motivieren, aber für den Anfänger haben die Begriffe trotzdem einige Fallstricke: schließlich muß eine nicht-offene Menge keineswegs abgeschlossen sein und umgekehrt. (Ein ähnliches begriffliches Problem wie bei injektiv und surjektiv, die sich ja ebenfalls nicht ausschließen.) Und es gibt durchaus Mengen, die offen UND abgeschlossen sind.

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Ein paar eher triviale Beispiele finden sich im Wikipedia-Abschnitt “Open and closed are not mutually exclusive”. Wenn eine Menge mehrere Zusammenhangskomponenten hat, dann ist jede Komponente gleichzeitig offen und abgeschlossen. Im Bild oben ist die Menge A zusammenhängend, während B aus 4 Zusammenhangskomponenten besteht, die also alle offen und abgeschlossen sind.
Interessanter sind vielleicht Cantor-Mengen (das Bild unten zeigt die ersten Iterationsschritte zur Konstruktion einer Cantormenge)

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in denen es sehr viele offene und abgeschlossene Mengen gibt (und andererseits keine zusammenhängende Menge aus mehr als einem Punkt besteht). Solche Mengen kommen z.B. in der p-adischen Geometrie vor oder als ‘Rand im Unendlichen’ eines unendlichen regelmäßigen Baumes.

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Für Mengen, die gleichzeitig abgeschlossen und offen (closed and open) sind, hat sich im Englischen in letzter Zeit die Bezeichnung ‘clopen’ eingebürgert, eine deutsche Übersetzung gibt es dafür meines Wissens noch nicht.
Jedenfalls haben, wie ich gestern aus Ars Mathematica gelernt habe, die begrifflichen Schwierigkeiten mit offenen und abgeschlossenen Mengen inzwischen Eingang in die Populärkultur gefunden: eine der unzähligen im Netz kursierenden “Untergangs”-Parodien widmet sich ‘clopen sets’ und den begrifflichen Schwierigkeiten, die weniger komplex denkende Zeitgenossen mit den grundlegenden topologischen Begriffen haben können. (Wie die meisten “Untergangs”-Versionen richtet sich auch diese an englisch-sprachiges Publikum, d.h. man muß die englischen Untertitel lesen und den deutschen Text möglichst überhören. Im Internet kursieren übrigens hunderte solcher “Untergangs”-Parodien, auch einige mit Mathematik)

Kommentare (12)

  1. #1 Georg Hoffmann
    26. Januar 2012

    Sonst ginge vielleicht noch “ofsene Mengen”?

  2. #2 Sim
    26. Januar 2012

    Ich hab schon offiziell sowas wie abgeschloffen von Professoren gehört gehabt.

  3. #3 UMa
    26. Januar 2012

    Ich habe ständig ‘Abgesoffene Mengen’ gelesen. Ging es euch auch so?

  4. #4 Utan
    26. Januar 2012

    hehe, „Mengen sind keine Türen“.

    Ich gehe heute auch auf so eine Felix-Hausdorff Veranstaltung 🙂

  5. #5 Jürgen Schönstein
    26. Januar 2012

    @UMa
    Ja. Mein Hirn zwängt mir immer ein “s” mit rein, selbst beim x-ten Mal des Draufschauens. Aber das ist ganz normal. As genua disem Grnd könen wr auc solhe unvllstaendgen Stze lesen …

  6. #6 morgan
    26. Januar 2012

    Felix Hausdorff und eine Hiltler Parodie in einem Beitrag -> Bauchschmerzen…

  7. #7 Thilo
    26. Januar 2012

    @ Jürgen Schönstein
    wegen dem fehlenden s: ich habe mal ein Jahr in Spanien studiert und war da immer der Experte für deutsche Eigennamen. Die Spanier wußten zwar alle, daß man Hausdorff mit zwei f schreibt, waren sich aber stets unsicher, ob es ein oder zwei s sind.

    @ morgan:
    Schon klar, ich hatte auch kurz gezögert, ob das jetzt gerade am Todestag so passend ist. Aber irgendwie ist das (der ‘Untergang’ und die vielen Parodien darauf) ja auch eine Art von spätem Triumph. Und das Video zeigt ja einfach nur, daß Hausdorffs Theorie so komplex ist, daß nicht jeder Idiot (und nicht jeder selbsternannte Herrenmensch) sie begreifen kann.

    Ich versuche mal, der Parodie noch eine tiefenphilosophische Deutung zu geben: da rastet jemand völlig aus, weil er bestimmte Begriffe zu schwierig und irgendwie unlogisch findet. In Wahrheit ist es aber die Wirklichkeit, die so kompliziert ist, denn die Begriffe spiegeln ja die Wirklichkeit wieder und die ist eben nicht so einfach, wie es mancher gerne hätte. In Wahrheit rastet derjenige also aus, weil die Wirklichkeit sich nicht in sein einfaches Weltbild einfügen läßt und alles so schrecklich kompliziert ist. Soweit doch eigentlich eine ganz passende Metapher. (Natürlich ist das alles nicht mehr lustig, wenn man die Folgen solcher kollektiven ‘Ausraster’ im Hinterkopf hat. Da stimme ich natürlich zu.)

  8. #8 Stefan W.
    26. Januar 2012

    Das erinnert mich an Amerikaner, die mit einer Calorie eine Kilokalorie bezeichnen, woraus schlüssig folgt, dass eine Megacalorie eine Kilokalorie ist, also letztlich auch wieder eine Kalorie, wodurch es kommt, dass eine Zehntel Kalorie mehr sein kann, als 100 Kalorien.

    Leider habe ich keine SS zur Verfügung, um den Verursacher zu verfolgen, aber wenn ich sie hätte, …

  9. #9 morgan
    27. Januar 2012

    @Thilo:
    “eine Art von spätem Triumph”
    Ich hatte das auch als mögliche “Rechtfertigung” im Kopf. Nach gründlichem Nachdenken trifft dies aber für mich nicht zu. Es war nie ein Triumph. Die Opfer sind alle immer noch tot oder traumatisiert, die Aktien der IG Farben sind immer noch an der Börse zu haben, die entstandenen Vermögen sind immer noch vorhanden, die vertrieben Menschen immer noch nicht heimgekehrt und wir haben immer noch eine offizielle Partei deren Mitglieder “Reichspässe” tragen.

    Die Parodie bezieht sich auch nicht direkt auf Hitler, sie macht sich nicht einmal lustig über ihn. Im Gegenteil, Hitler wird hier als sehr menschlich dargestellt – denn diese Wutmomente haben ja Viele beim Studium der Topologie.

    Oberflächlich betrachtet finde ich die Parodie auch lustig, aber nicht im Zusammenhang.

  10. #10 morgan
    27. Januar 2012

    @Thilo:
    Danke übrigens, dass du auf meine Kritik eingegangen bist. Man bekommt in Deutschland viel zu oft zu hören “irgendwann muss es doch auch mal gut sein”…

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    19. Dezember 2014

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  12. #12 Thilo
    25. März 2018

    Im 2015 erschienenen Lehrbuch von Laures und Szymik findet sich in Kapitel 3.1 nun tatsächlich der Begriff „abgeschloffene Menge“.