Morse-Funktionen (Stabilität und Generizität).


Vor 2 Wochen hatten wir ein spezielles Vektorfeld auf einer Fläche betrachtet, das Gradientenvektorfeld der Höhenfunktion.
Aus dieser Funktion bzw. ihrem Gradientenvektorfeld möchte man die letzte Woche definierte Henkelzerlegung der Fläche zurückgewinnen. Das ist der Inhalt der sogenannten Morse-Theorie (die hat übrigens nichts mit Morsen zu tun außer daß der Erfinder des Morse-Alphabets und der Erfinder der Morse-Theorie miteinander verwandt waren) und der allgemeine Kontext, in dem man diese Theorie aufzieht, sind die Morse-Funktionen.

Morse-Funktionen sind, per Definition, (reell-wertige) Funktionen f:S–>R, für die alle kritischen Punkte nicht-entartet sind.
(Kritische Punkte sind diejenigen, wo die Ableitung verschwindet. Nicht-entartet heißt, daß die Hessische, also die Matrix der zweiten Ableitungen, nichtentartet ist.)

Aus der Analysis II kennt man die drei Möglichkeiten für einen kritischen Punkt einer Morsefunktion: entweder ist die Hessische positiv definit (lokales Minimum) oder indefinit (Sattelpunkt) oder negativ definit (lokales Minimum).

i-0cea6141e114d11074f48e54a3ececaa-Paraboloid.png

f(x,y)=x2+y2
lokales Minimum in (0,0)

f(x,y)=x2-y2
Sattelpunkt in (0,0)

f(x,y)=4-x2-y2
lokales Maximum in (0,0)

Man kann tatsächlich beweisen (das ist die Aussage des sogenannten Morse-Lemma), daß es zu jedem kritschen Punkt einer Morse-Funktion auf einer Fläche geeignete lokale Koordinaten (in einer Umgebung des kritischen Punktes) gibt, bzgl. derer die Funktion dann entweder x2+y2 oder x2-y2 oder -x2-y2 ist.

Warum ist es natürlich, gerade Funktionen mit solchen Singularitäten zu betrachten?

Zum einen ist diese Form von Singularitäten “”stabil”.
In TvF 121 hatten wir mal Stabilität von Singularitäten diskutiert:

f(x)=x2 hat einen kritischen Punkt in x=0, f(x)=x3 ebenfalls. Es gibt aber einen Unterschied zwischen diesen beiden Beispielen. Wenn man f(x)=x2 ein bißchen ändert, dann hat die ‘gestörte’ Funktion immer noch eine Singularität (evtl. nicht mehr in 0, aber in der Nähe von 0). Wenn man dagegen statt f(x)=x3 die ‘gestörte’ Funktion g(x)=x3+εx (mit einem kleinen ε>0) nimmt, dann hat g plötzlich keine Singularität mehr. (Die Ableitung ist 3x2+ε, was keine Nullstellen hat.)
Man sagt, die Singularität von f(x)=x3 ist instabil.
Stabile Singularitäten von Funktionen f:R–>R sehen immer so aus wie die Parabel.

Und analog für Funktionen f:R2–>R bzw. f:S–>R auf einer Fläche S sind die stabilen Singularitäten gerade die Singularitäten von Morse-Funktionen, also die lokal aussehen wie entweder x2+y2 oder x2-y2 oder -x2-y2.
(Schwieriger ist die Frage, wie die stabilen Singularitäten für Abbildungen f:R2–>R2 aussehen. Wie in TvF 121 erwähnt wurde diese Frage 1955 von Whitney beantwortet: die stabilen Singularitäten sind die Fold-Katastrophe und die Cusp-Katastrophe.)
Also: Morse-Funktionen sind stabil (in anderen Worten: die Menge der Morse-Funktionen ist eine offene Teilmenge im Raum aller differenzierbaren Funktionen. Eine geringfügige Störung einer Morse-Funktion ist wieder eine Morse-Funktion.) Diese Stabilität unterscheidet Morse-Singularitäten von anderen Typen von Singularitäten.

Für die topologischen Anwendungen noch wichtiger ist aber natürlich die Frage nach der Existenz von Morse-Funktionen. Und da stellt sich heraus, daß Morse-Funktionen nicht nur auf jeder Fläche (und auch jeder höher-dimensionalen Mannigfaltigkeit) existieren, sondern daß die Morse-Funktionen sogar eine dichte Teilmenge im Raum aller differenzierbaren Funktionen sind: man kann jede beliebige Funktion mit einer beliebig kleinen Störung zu einer Morse-Funktion machen.

(Eigenschaften, die auf einer offenen und dichten Teilmenge gelten, nennt man in der Mathematik übrigens “generisch”. Man kann also sagen: eine generische differenzierbare Funktion ist eine Morse-Funktion.)


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